„Mit Dir rechnen wir noch“

Mit Henning Scherf rechnen noch viele. Wie kann es gelingen, dass Menschen auch im hohen Alter noch mitten drin sind, am Leben teilhaben? Darüber sprach der 78-Jährige in Ankum.

Zwei Stunden lang war Henning Scherf im See- und Sporthotel in Ankum, erzählte ungemein anschaulich und beantwortete Fragen der zahlreichen Zuhörer.

Zwei Stunden lang war Henning Scherf im See- und Sporthotel in Ankum, erzählte ungemein anschaulich und beantwortete Fragen der zahlreichen Zuhörer.

Jemand zum Anfassen, das muss Henning Scherf wohl immer gewesen sein, auch als Politiker. In Ankum war er vor Beginn der Veranstaltung durchweg ganz nah bei denen, die ihn ansprachen. Bei ihm scheint aus dem Stand ein Funke zum Gesprächspartner überzuspringen. Da ist nicht die Spur von Distanziertheit. Im Gegenteil. Er ist zugewandt, wirkt auf Anhieb vertieft ins Gespräch, zugleich locker, und das nicht zuletzt, weil er immer auch eine Prise Humor einbringt, egal wie ernst die Sache ist. Die Sache, über die Henning Scherf an diesem Abend im Ankumer See- und Sporthotel auch mit viel Humor sprach, die ist ihm ernst. Sehr ernst sogar.

So mancher nutze schon vor Beginn der veranstaltung die gelegenheit, mit Henning Scherf ins Gespräch zu kommen. Un der war ganz Ohr.

So mancher nutzte schon vor Beginn der Veranstaltung die Gelegenheit, mit Henning Scherf ins Gespräch zu kommen. Und der war ganz Ohr.

Mehrere Bücher hat Henning Scherf inzwischen über das ihn seit Jahrzehnten bewegende Thema älter und sehr alt werden geschrieben. In allen geht er der Frage nach: Wie kann es gelingen, dass niemand, auch nicht der sehr alte und pflegebedürftige Mensch, vom Leben abgeschnitten wird, dass Menschen mittendrin alt sein und werden können ?

Für sich selbst hat Henning Scherf eine Antwort gefunden. Wie die aussieht, davon erzählte er höchst anschaulich. Auf den Gesichtern seiner Zuhörer stand, während er redete, so manches geschrieben: Interesse, Staunen, auch etwas ungläubiges Staunen, Heiterkeit, Zweifel, Nachdenklichkeit. Ist für mich denkbar, wovon Scherf erzählt? Wird sich mancher gefragt haben. Und vielleicht auch: Klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Wahr ist es. Davon zeugt, dass Henning Scherf seit 30 Jahren lebt, wovon er berichtete: Von seiner Wohngemeinschaft, in die er, damals 49 Jahre jung, mit seiner Frau und Freunden eingezogen ist. Inzwischen sind sechs der 10 Bewohner über 80 Jahre alt.

Henning Scherf ermuterte seine Zuhörer, ihn zu unterbrechen und Fragen zu stellen.

Henning Scherf ermuterte seine Zuhörer, ihn zu unterbrechen und Fragen zu stellen.

„Da saßen meine Louise und ich dann da“.

Die Kinder aus dem Haus, alle zum Studieren in anderen Städten. „Da saßen meine Louise und ich dann da“, so Henning Scherf, damals 45 Jahre alt. An die Hoffnung, vielleicht kommen die Kinder ja wieder zurück, klammerten sich beide nicht lange. Sie stellten sich schon bald die Frage: Schaffen wir das, noch was Neues zu machen?

Die Idee: „Wohnverhältnisse schaffen, wo man nicht alleine ist.“ Am Ende der Überlegungen stand der Kauf eines Hauses, das zu einer Wohngemeinschaft für 10 Personen umgebaut wurde. Damals noch ein Aufsehen erregendes Projekt. Begleitet auch vom Kopfschütteln seiner Kinder. Die hätten die Eltern für „spätpubertierende Romantiker“ gehalten, erzählt Scherf.

Das Interesse am prominenten Gast war groß. Er wurde schon vor der Veranstaltung auf Schritt und Tritt angesprochen und er hatte seine Freude daran.

Das Interesse am prominenten Gast war groß. Er wurde schon vor der Veranstaltung auf Schritt und Tritt angesprochen, und er hatte seine Freude daran.

„Ein bisschen wie im Flüchtlingslager“.

Der erste Schritt: Aus dem zweigeschossigen Haus wurde durch den Ausbau des Kellers und des Dachs ein fünfgeschossiges. Scherf berichtete vom altersgerechten Ausbau, von neuen Toiletten, weil man von den alten, die viel zu tief waren, ja gar nicht mehr hochkomme, von altersgerechter Küchenausstattung usw. Auch davon, wie jeder nach seinen Fähigkeiten und Eigenarten Aufgaben im Haus übernimmt. Er habe sich partout um den Garten kümmern wollen, so Scherf. Keine Zeit dafür, kein grüner Daumen: Scherf erwies sich als Fehlbesetzung für diesen Part und musste ausgewechselt werden.

Um auch Distanz halten zu können, hat jede Wohnpartei im Haus einen eigenen Bereich mit eigenem Strom-, Gas-, Wasserzähler. Und es gibt eine Reihe von Gästezimmern im Haus. Sehr wichtig, denn die tragen zur Verankerung des gesamtes Projekts in den großen Kreis der Familie – der Kinder, der Enkelkinder – bei und in einen großen Kreis von Freunden, die zu Besuch kommen. Weihnachten gehe es dann schon mal richtig eng zu. „Ein bisschen wie im Flüchtlingslager“, schmunzelte Scherf, „aber das passt ja auch zu Weihnachten.“

Unter den Zuhörern war auch Hubert Meyer, der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen der Samtgemeinde Bersenbrück.

Unter den Zuhörern war auch Hubert Meyer (2. von rechts), der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen der Samtgemeinde Bersenbrück. Ganz links (im weißen Hemd): Samtgemeindebürgermeister Dr. Horst Baier.

Das Essen als „Wanderzirkus“.

Früher habe man abends zusammen gegessen, so Scherf, heute wird mittags zusammen gegessen. Dabei kommt dann auch auf den Tisch, „was wir so an Problemen haben“. Das lasse sich beim Essen viel besser aushandeln als in anderem Rahmen, so die Scherf’sche Erfahrung. „Als Wanderzirkus“ beschrieb er das Essen, denn jeder ist mal mit dem Essen kochen dran, und man trifft sich bei dem, der gerade dran ist. Wer kocht, kommt auch für die Kosten auf.

Jeder bringt sich ein, und zwar nach seinen Möglichkeiten – das gilt fürs Projekt insgesamt, denn an dem sind nicht nur gut betuchte Rentner beteiligt. Sein bester Freund und Mitbewohner, so Henning Scherf, bekommt 620 € Rente. Zu essen gibt’s bei ihm z. B. „Himmel und Erde“. Lecker – und nicht teuer.

Als ungemein liebenswerten Kauz beschrieb Scherf seinen Freund, der in einer Stallanlage Pferde pflegt und dort auch ein eigenes Pferd stehen hat. Für die Enkelkinder sei dieser Mitbewohner „eine große Sensation“, weil es die zu den Pferden zieht. Sein Freund sei aber auch ein regelrechter Messie, erzählt Scherf. Da müsse man schon – wie bei kleinen Kindern – hinter ihm her räumen. Wenn er mit dem Essen dran sei, müsse er zunächst eine große Aufräum- und Putzaktion starten. Er bedankt sich dann bei uns, sagt Scherf, weil er durch unser Anrücken zum Essen gezwungen ist, Ordnung zu schaffen. Persönliche Eigenarten von Mitbewohnern muss also aushalten können, wer sich für die WG-Lebensweise à la Scherf entscheidet. Und da es eine Alters-WG ist, nicht nur das.

Vor der veranstaltung: Gabriele Linster (rechts), die Ehrenamtsbeauftragte der Samtgemeinde, im Gespräch mit Gästen.

Vor Beginn der Veranstaltung: Gabriele Linster (rechts), die Ehrenamtsbeauftragte der Samtgemeinde, im Gespräch mit Gästen.

In guten wie in schlechten Zeiten.

Die „Nagelprobe“, wie er es nannte, für das Projekt „kam bereits nach zwei Jahren“. Da wurde eine Mitbewohnerin todkrank. Gepflegt wurde sie bis zum letzten Atemzug von der Hausgemeinschaft. Zwei Jahre lang. Unterstützung kam von einer ambulanten Palliativversorgung. Kurz darauf erneut ein schwerer Krankheitsfall. Fünf Jahre intensive Begleitung und Pflege, teils rund um die Uhr. Da der Kranke nachts nicht alleine sein konnte und wollte, so Henning Scherf, schlief abwechselnd immer einer bei ihm.

Henning Scherf, zu dem Zeitpunkt noch Bürgermeister von Bremen, war alle neun, zehn Nächte, wie er berichtete, dran. Dass das eine harte Zeit war, daran ließ Henning Scherf keinen Zweifel, aber man habe sich vorgenommen, niemanden alleine zu lassen. Allein schafft das die Gruppe nicht. Wie ein roter Faden zieht sich durch Hennig Scherfs Erzählen, dass es eines weit größeren Netzwerkes bedarf – vom Kreis der Familien bis zu Freunden –, um mit Leben zu füllen, was man sich vorgenommen hat, und um mit dem fertig zu werden, was das Alter eben auch mit sich bringt wie Krankheit und Sterben. Genau das, so Scherf, bringe aber auch alle – jung wie alt – enger zusammen und alle profitieren von der Einbeziehung.

„Gemeinsam statt einsam“ war Henning Scherfs erstes Buch zum Thema Alter. Dem folgten weitere. In seinem Buch „Altersreise“ beschäftigt er sich mit dem hohen Alter. Zentrales Anliegen seines spannend und persönlich erzählten Buches ist die Botschaft: „Angst führt nicht weiter. Die geschenkten Jahre zu genießen und in Würde zu altern, das ist möglich.“

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Henning Scherf berichtete nicht nur aus seinem eigenen Altersleben. Es verwies auf diverse andere Möglichkeiten, um bis zum letzten Atemzug am Leben teilzunehmen. So hat er zum Beispiel in 15 Pflege-Wohngemeinschaften für ein Buch recherchiert und dort auch gewohnt. Eine Woche lang, in einer auch drei Wochen. Das Ziel dieser Einrichtung: Möglichst viel Teilhabe am normalen Leben, am gemeinsamen Kochen zum Beispiel.

„Mit Dir rechnen wir noch“: Wie aktivierend und belebend es auf Menschen wirkt, wenn sie nicht nur versorgt werden, sondern mit einbezogen sind ins alltägliche Leben, beschrieb Scherf mit viel Empathie und einem Leuchten in den Augen. „Die sind dann auf einmal nicht mehr in Pflegestufe 3“, sagte er, aber dafür wird die Einrichtung dann nicht belohnt, sondern mit weniger Geldzuwendung bestraft. Das muss sich ändern, findet er.

Bürgermeister Detert Brummer-Bange begrüßte den prominenten Gast. Der Veranstalter war die UWG Ankum.

Bürgermeister Detert Brummer-Bange (rechts) begrüßte den prominenten Gast, der sich im Kreis seiner Zuhörer sichtlich wohl fühlte. Der Veranstalter war die UWG Ankum.

„Was hat das mit Kommunalpolitik zu tun?“

Das Altersleben aktiv zu gestalten, ist eine persönliche Sache. Aber nicht nur eine persönliche. Ankums Bürgermeister Detert Brummer-Bange stellte in seinen einleitenden Worten zum Thema des Abends die Frage: Was hat das alles mit Kommunalpolitik zu tun? Und er antwortete mit Henning Scherf. Der habe einmal gesagt, „wer dieses Thema vergisst, verliert seine Zukunft.“ Henning Scherf plädierte vehement dafür, dass sich die Kommunalpolitik dieses Themas annimmt. Von einer leer stehenden Grundschule, von einem Grundschulgelände habe er in Ankum erfahren. Das wäre doch was, meinte er, um um dort ein Projekt von der Art mittendrin, mitten im Ort alt werden zu realisieren.

Aber unabhängig davon: Was ein Glück ist – dass wir heute 40-50 Lebensjahre mehr haben als die Menschen vor 100 Jahren – hat Folgen, der sich die Kommunalpolitik stellen muss, gerade auch in Dörfern. Gibt es noch Einkaufsmöglichkeiten vor Ort, nannte Scherf als Beispiel. Wie ist es um die ärztliche Versorgung bestellt, wie um die Mobilität für Ältere, die nicht mehr Auto fahren? Was in größeren Städten noch gelingt, sagt er, sei in Dörfern ungleich schwieriger.

Unter den Zuhörern waren auch jüngere Menschen und auch Mitglieder des Ankumer Gemeinderats.

Unter den Zuhörern waren auch jüngere Menschen und auch Mitglieder des Ankumer Gemeinderats.

Es war ein nachdenklich stimmendes, aber vor allem Mut machendes und vergnügliches Erlebnis, Henning Scherf in Ankum zuzuhören. Jeder konnte wohl etwas für sich mit nach Hause nehmen – als Anstoß fürs Nachdenken über die eigenen Lebensperspektiven, über die von Eltern, Geschwistern und Freunden. Für Gemeinderatsmitglieder – und es waren so einige gekommen, auch jüngere – war der Abend gewiss auch ein Anstoß zum Nachdenken darüber, wie sich Ankum dieses Themas annehmen kann. Auch hier wird es viel mehr über 70-, 80- und 90-Jährige geben. Nach der Bevölkerungsprognose des Landkreises steigt die Zahl der 60-79-Jährigen in Ankum in den kommenden 14 Jahren um fast 54% auf dann 2.071 Menschen an und die der über 80-Jährigen sogar um 67% auf 530. Die Zahl der Jungen (bis 19 Jahre), so die Prognose, wird dagegen um gut 4% sinken. Mehr dazu hier.

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