Aus der Rede von Dr. Horst Baier, gehalten am 24. Mai 2015

Dr. Horst Baier, Bürgermeister der Samtgemeinde Bersenbrück, bei seiner Rede anlässlich des 30. Heimat- und Patenschaftstreffens 2015 des Heimatkreises Greifenhagen am 24. Mai 2015.

Aus der Rede von Samtgemeinde-Bürgermeister Dr. Horst Baier anlässlich des 30. Heimat- und Patenschaftstreffens 2015 des Heimatkreises Greifenhagen/Pommern am 24. Mai 2015 im Hermann-Rothert-Saal des Rathauses Bersenbrück. Am Tag vor dieser Rede war einer der Programmpunkte des Treffens „Wir pflanzen einen Lindenbaum 70 Jahre nach 1945“. Stehen soll diese Linde „für Frieden + Freiheit + Recht gegen Krieg + Flucht + Vertreibungen“.

 

Dr. Horst Baier, Bürgermeister der Samtgemeinde Bersenbrück, bei seiner Rede anlässlich des 30. Heimat- und Patenschaftstreffens 2015 des Heimatkreises Greifenhagen am 24. Mai 2015.

Dr. Horst Baier, Bürgermeister der Samtgemeinde Bersenbrück, bei seiner Rede anlässlich des 30. Heimat- und Patenschaftstreffens 2015 des Heimatkreises Greifenhagen am 24. Mai 2015.

 

Aus der Rede von Dr. Horst Baier, gehalten am 24. Mai 2015

Gestern haben Sie eine Linde gepflanzt für „Frieden, Freiheit und Recht“ gegen „Krieg, Flucht und Vertreibung“ und damit einen Baum, der in mehr als einer Hinsicht Symbolcharakter hat.
„300 Jahre kommen, 300 Jahre stehen und 300 Jahre vergehen Linden“, heißt es im Volksmund im Hinblick auf die Langlebigkeit dieser Bäume, die in vielen Kulturen mythische und religiöse Bedeutung haben. Die Linde steht für Liebe, Frieden und Heimat, ihr werden Heil- und Energiekräfte zugeschrieben. Noch vor der Eiche ist sie der typische deutsche Baum, der in vielen Orten und Städten ebenso verwurzelt ist wie in Gedichten und Liedern.
Ein besonderes Phänomen ihrer scheinbaren Langlebigkeit schöpft die Linde aus der Fähigkeit, aus alten, greisen Stämmen neue Innenwurzeln wachsen zu lassen, die sich im Boden verankern und von dort eine junge Krone mit Nährstoffen und Kraft versorgen, die dann quasi aus der uralten und eigentlich hohlen Altlinde herauswächst – eine Verjüngung von innen heraus sozusagen.
Im Gegensatz zur Linde, die ihre Wurzeln nur an ihrem ursprünglichen Standort erneuern kann, um sich zu verjüngen und damit in nächster und übernächster Generation zu leben, sind Menschen mobil. Sie können den Standort wechseln, neue Wurzeln schlagen und ihre Kultur, ihre Werte und ihre Erfahrungen an die nächsten Generationen weitergeben.
Nicht immer geschieht dies aus eigenem Willen, häufig sind es Not, Krieg und Vertreibung, die Menschen zwingen, ihren gewohnten Standort, ihre geliebte Heimat zu verlassen und an einem bis dahin unbekannten und fremden Ort sesshaft zu werden. Bis aus diesem „Sesshaft werden“ ein Heimatgefühl entsteht, darüber kann viel Zeit vergehen, nicht immer gelingt dies in einer Generation.

 

„Es ist wichtig, dass wir denjenigen zuhören, die Flucht und Vertreibung selber erlebt haben“

Ich weiß sehr genau, wovon ich spreche. Meine Mutter kommt ursprünglich aus Pommern bei Neustettin, mein Vater aus Siebenbürgen. Dadurch habe ich in meinem Bekanntenkreis viele Heimatvertriebene und kann die Empfindungen von Menschen sehr gut verstehen, die sich ein Stück weit entwurzelt fühlen. Mein Vater hat bis an sein Lebensende von seinem Dorf, seinem eigenen Acker und dem gesellschaftlichen Leben in Siebenbürgen gesprochen.
Von den Kulturen und überlieferten Traditionen meiner Eltern und von ihren zuverlässigen Werten profitiere ich bis heute, sie haben mich geprägt und mir eine stabile Basis gegeben, aus der heraus ich mein Leben gestalten und entwickeln konnte. Womöglich würde ich jetzt anders leben, wenn meine Eltern ihre Heimat nie hätten verlassen müssen – wahrscheinlich gäbe es mich gar nicht, da meine Eltern sich nie kennengelernt hätten.
Veränderung muss aber nicht nur Abschied und Trauer bedeuten, sie kann auch Chance und Neubeginn sein. Allerdings gibt es das eine meistens nicht ohne das andere.
Dabei gelten Chancen und Neubeginn nicht nur für die Menschen, für die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten und müssen. Chancen und Neubeginn bringen die Menschen, die Flüchtlinge auch in die Gesellschaft, die sie aufnimmt und die ihnen eine neue Heimat bietet. Dies gilt auch für das Bersenbrücker Land nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der von Deutschland entfesselte Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus waren die Ursache für Millionen von Toten und für unermessliches Leid vieler Völker. Auch viele Deutsche wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft und nach Ende des Krieges zum Opfer. Rund 14 Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben oder mussten fliehen. Wir, die wir Vergleichbares nicht erleben mussten, können die Schrecken nicht nachfühlen, die die Opfer von Flucht und Vertreibung erlebt haben. Menschen verloren Haus und Hof, Hab und Gut. Die Allermeisten sahen ihre Heimat nie wieder. Familien wurden auf der Flucht getrennt. Viele Flüchtlinge wurden misshandelt. Frauen wurden vergewaltigt. Viele Menschen wurden verschleppt oder umgebracht oder verloren auf der Flucht unter grausamen Umständen ihr Leben. Diese Erlebnisse und das Gefühl des Heimatverlustes begleiteten und begleiten die Vertriebenen ihr Leben lang.
Es ist wichtig, dass wir denjenigen zuhören, die Flucht und Vertreibung selber erlebt haben. Wir müssen daran erinnern, welche Schrecken Vertreibung auslöst. Die Schicksale der Vertriebenen sind uns Mahnung, dass Vertreibung unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist und niemals Mittel der Politik sein darf.

 

„Dieses Erbe ist nicht wegzudenken“

Wir sollten uns aber auch an die Heimat erinnern, die die Vertriebenen verlassen mussten. Erinnerung an die Heimat – das bedeutet Erinnerung an über 700 Jahre Siedlungsgeschichte Deutscher in Schlesien, in Ostpreußen und Pommern, Erinnerung daran, dass jahrhundertelang Deutsche auch außerhalb des deutschen Staatsgebiets in Ost- und Südosteuropa gesiedelt und die Kultur dieser Staaten mit geprägt haben.

In Ankum erinnert dieses Stätte an die Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs.

In Ankum erinnert dieses Stätte an die Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs.

Auch Deutsche, die keine familiären Wurzeln östlich der Oder haben, sollten wissen, dass Breslau, Königsberg und Stettin einmal deutsche Städte waren, dass die Ostpreußen Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant und Käthe Kollwitz das deutsche Kultur- und Geistesleben ebenso geprägt haben wie der Schlesier Gerhart Hauptmann oder der in Prag geborene Rainer Maria Rilke und dass die Siebenbürger Sachsen oder die Russlanddeutschen ihre eigene Kultur und ihr eigenes Brauchtum haben wie die Bayern, Sachsen oder Württemberger. Die in Stettin geborene Katharina die Große hat als Kaiserin von Russland deutsche Bauern an der Wolga angesiedelt. Dieses Erbe ist nicht wegzudenken. Es ist ein Teil unserer kulturellen Identität in Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa.
Das Wachhalten dieser Geschichte hat nichts mit dem Wunsch nach der Wiederherstellung alter Grenzen zu tun, was in einem demokratisch und dem Frieden verpflichten Staat wie unserem völlig undenkbar wäre. Unsere Erinnerungskultur kann allerdings leicht bei unseren östlichen Nachbarn auf Unverständnis stoßen. Daher müssen wir dabei sensibel vorgehen und den Dialog mit den Nachbarn über unsere Motive suchen.
Wir sind es den Vertriebenen ebenso wie den anderen Opfern des Nationalsozialismus schuldig, ihrer Schicksale zu gedenken und die Erinnerung wachzuhalten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich dem Heimatkreis Greifenhagen dafür danken, dass er die Erinnerung an die Vergangenheit wach hält und dieses Heimat- und Patenschaftstreffen organisiert hat. Dank möchte ich auch den engagierten Menschen in Bersenbrück sagen, die zum Gelingen des Treffens beigetragen haben.
Das gewählte Motto für das Pfingsttreffen „Unsere Verantwortung für Deutschland und Europa, Erfahrungen der Geschichte – Blick in die Zukunft“ macht deutlich, dass es heute um die Gestaltung eines friedlichen und für Flüchtlingsfragen offenen Deutschland und Europa geht.

 

„Gedanklich mitnehmen auf eine Reise in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg“

Bei dem Stichwort Erfahrungen der Geschichte möchte ich sie gedanklich mitnehmen auf eine Reise in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland und unserer Region.
Der Landkreis Bersenbrück und andere Orte im Osnabrücker Land sind von den großen Flüchtlingswellen nach dem zweiten Weltkrieg richtig überrollt und in vielerlei Hinsicht zumindest anfangs überfordert worden. Schätzungen zufolge war in den Jahren 1945/46 rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland, zwischen 15 und 20 Mio. Menschen, aus kriegsbedingten Gründen wie Flucht, Vertreibung, Evakuierung, Gefangenschaft, Arbeitseinsatz, Familiensuche oder anderen Gründen geographisch mobil.
Die erste Erhebung, die Aufschluss über die Zahl der Flüchtlinge in der Region gibt, wurde von den Arbeitsämtern im September 1945 durchgeführt. Sie diente der „Arbeitseinsatzplanung“ und beschränkte sich auf die arbeitsfähige Bevölkerung von 14 bis 65 Jahren sowie auf den Bezirk des Arbeitsamtes Osnabrück. Trotz dieser Einschränkungen geben die Zahlen interessante Aufschlüsse über die Anteile der Bevölkerungsgruppen, insbesondere zwischen Wanderern und Sesshaften. Danach waren bereits im Sommer/Herbst 1945 ca. 30% der 14 bis 65jährigen des Arbeitsamtsbezirks Nichteinheimische bzw. Migranten im weiteren Sinne. Vorsichtig geschätzt dürfte der Flüchtlingsanteil im September/Oktober 1945 um 15% der 14 bis 65jährigen gelegen haben.
Die meisten der Umquartierten und Zuwanderer hatten in den Kreisen Osnabrück-Land mit ca. 16.000 Personen und Bersenbrück mit ca. 12.000 Personen Aufnahme gefunden. Osnabrück-Land und Bersenbrück waren die Kreise, die auch 1946 die Masse der neu ankommenden Flüchtlinge zu verkraften hatten.

 

„Flüchtlinge brachten die Landflucht schlagartig zum Stillstand“

Im Jahre 1946 hatte der Regierungsbezirk eine „ortsanwesende Bevölkerung“ von 656.000 Personen, von denen rund 463.000 zur „ständigen deutschen Wohnbevölkerung“ zählten. Von den 190.000 Personen der nicht ständigen deutschen Wohnbevölkerung machten „Flüchtlinge“ mit 110.000 den größten Anteil aus, gefolgt von rund 51.000 Evakuierten, 26.000 ehemaligen Fremdarbeitern und 1.500 kriegsgefangenen deutschen Soldaten. Die von der Bezirksplanungsbehörde errechnete „Überfremdung“ lag bei ca. 42%. Das war der Bevölkerungsteil, für den die deutsche Verwaltung die Lebensumstände zu sichern hatte – ein damals kaum lösbares Problem. Bis 1950 hatten sich die Zuwanderströme nochmals erhöht. Der Landkreis Bersenbrück verzeichnete im Verhältnis zur Einwohnerzahl mit 27.000 Zuwanderern den höchsten Anteil in der Region.
Diese Entwicklung hat den Landkreis Bersenbrück massiv verändert. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im Regierungsbezirk Osnabrück eine massive Landflucht und eine Industrialisierung in den größeren Städten wie Osnabrück. Bis in die Vorkriegszeit schrumpften die Anteile der Kleingemeinden unter 2.000 Einwohner an der Gesamtbevölkerung infolge negativer Wanderungssalden. Die nach 1945 aus Wohnungs- und Ernährungsgründen fast ausschließlich in ländliche Gebiete eingewiesenen Vertriebenen und Flüchtlinge brachten die Landflucht schlagartig zum Stillstand. Die Behörden haben damals die Zuwanderung in die ländlichen Gebiete als problematisch angesehen, weil kaum Arbeitsplätze im ländlichen Raum vorhanden waren. Übrigens ist der Versuch einer zentralen Steuerung der Zuweisung von Flüchtlingen kläglich gescheitert. Die Menschen haben sich ihre eigenen Wege gesucht, wie wir auch heute immer wieder feststellen können.
Nach einigen Jahren ist dann aber eine ganz erstaunliche Entwicklung eingetreten. Durch die stark gestiegene Bevölkerungsdichte haben sich zunehmend Betriebe im Kreis Bersenbrück angesiedelt oder wurden von Aussiedlern gegründet. Ich erinnere hier nur an die Erfolgsgeschichte der Firma Stahlbau Wurst, heute ein großes Vorzeigeunternehmen in Bersenbrück. Ohne die Flüchtlinge hätte die Samtgemeinde Bersenbrück heute ein völlig anderes Gesicht.

 

„Ihre ersten Erfahrungen in der neuen Heimat waren oft bitter“

Die Integration von Flüchtlingen ist nicht leicht und erfordert große Anstrengungen. Ein gefühltes „Zuviel“ an Zuwanderung fördert Ängste und Ablehnung, wie die zum Glück nicht mehr so aktive Pegida-Bewegung gezeigt hat.
Bei dieser Frage sollten wir uns aber auch an die Geschichte und an die Ankunft und die Integration der Vertriebenen in Deutschland erinnern. Der Neuanfang war schwer und wurde den Vertriebenen von vielen Alteingesessenen oft nicht leicht gemacht. Sie waren zwar Deutsche wie diese und sprachen dieselbe Sprache, aber sie sprachen andere Dialekte, kannten die regionale Kultur nicht und gehörten auch oft einer anderen Konfession an. Die Bereitschaft, diese Unterschiede anzunehmen und vielleicht sogar als bereichernd anzusehen, war bei der alteingesessenen Bevölkerung – damals ja unter schwierigen Umständen – häufig gering.
Die Vertriebenen fühlten sich anfangs ausgegrenzt und diskriminiert. Dazu kam der wirtschaftliche Abstieg: Sie hatten Hab und Gut verloren. Sie hatten zunächst keine eigene Wohnung und auch keinen Arbeitsplatz. Die wirtschaftliche Situation der Vertriebenen blieb auf Jahre hinaus schlechter als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Sie mussten oft Arbeit annehmend, die unter ihrem Qualifikationsniveau lag.
Ihre ersten Erfahrungen in der neuen Heimat waren oft bitter. Manchmal ließ man die Hunde von der Kette. „Flüchtlingsschweine“, „Polacken“ oder „Gesindel“ waren damals oft gebrauchte Schimpfworte. Dabei waren sie, allein auf sich gestellt, auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Dass sie als „Zigeuner“ oder „Gesindel“ bezeichnet wurden, entsetzte und erbitterte viele von ihnen. „Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“, sagte man im Emsland über die Zeit nach dem Krieg. Kein Wunder, dass die Zwangseinquartierung von Vertriebenen mancherorts den sozialen Frieden gefährdete.

 

„Eine Bereicherung für beide Seiten“

Aus heutiger Sicht sind diese Menschen nicht nur längst in zweiter, dritter und teils bereits vierter Generation integriert, sondern sie sind eine nicht wegzudenkende Bereicherung unserer Region. Ohne die Zuwanderung hätten die Gemeinden in der Samtgemeinde Bersenbrück nicht eine so dynamische Entwicklung genommen.
Dieser großen Flüchtlingswelle vor 75 Jahren folgte vor 25 Jahren eine weitere, wenn auch deutlich kleinere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung des Eisernen Vorhanges. Insbesondere viele ehemalige Wolgadeutsche, die unter Stalin nach Zentralasien deportiert wurden, haben sich im Nordkreis von Osnabrück niedergelassen. Wiederum eine Herausforderung an Altbürger und Neubürger gleichermaßen, ganz klar aber auch eine Bereicherung für beide Seiten, die uns den demografischen Wandel mit seinen negativen Folgen deutlich geringer spüren lässt als andere Regionen in Deutschland. So stieg die Bevölkerung in der Samtgemeinde Bersenbrück von ca. 19.000 zu Ende der 80er Jahre auf mittlerweile fast 29.000 in 2015.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich den Bogen des Flüchtlings-Themas noch einmal zurückschlagen auf einen Zeitraum vor rund 200 Jahren. Damals zogen Menschen aus dieser Region – Heuerlinge ohne eigenen Grund und Boden – erst als Hollandgänger auf der Suche nach Arbeit und Lohn in die benachbarten Niederlande, später dann wanderten sie in großen Wellen aus nach Amerika und blieben dort.
Seit einigen Jahren kommen ihre Nachfahren zurück auf den Spuren ihrer Ur-Ur-Ur-Großeltern, suchen nach den familiären Wurzeln ihrer Familien, besichtigen und bestaunen die deutschen Gemeinden. Sie schließen den Kreis Generationen überdauernder Erinnerungen und fliegen zurück nach Amerika, in ihre neue Heimat.
Heute würden wir die Vorfahren dieser Deutsch-Amerikaner, die seinerzeit unsere Region verließen, als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen und empfinden es mit der historischen Distanz meist akzeptabler als die Schicksale der Wirtschaftsflüchtlinge anderer Nationen, die heute in Deutschland Hilfe suchen.
Aber auch wirtschaftliche Not ist Existenznot, vielleicht überfällt sie Menschen nicht so abrupt und unvorbereitet wie Krieg oder Verfolgung, aber sie bedroht das Leben von Familien, von Erwachsenen und Kindern.

 

„Uns über eine neuerliche Bereicherung unserer stabilen und gefestigten Kultur freuen“

Aktuell haben wir wieder eine Flüchtlingswelle in Deutschland, im Osnabrücker Land, in Bersenbrück. Verglichen mit der Auswanderungs-Flüchtlings-Welle vor 200 Jahren, gemessen an der Flüchtlingswoge vor 75 Jahren, gegenübergestellt der Flüchtlingswelle vor 25 Jahren, ist diese aktuelle Flüchtlingswelle eher klein. In der Samtgemeinde Bersenbrück haben wir derzeit ca. 90 Flüchtlinge aufgenommen. Es fällt uns zwar zunehmend schwer, angemessenen Wohnraum zu finden. Von einer Überlastung kann aber keine Rede sein.
Die derzeitige Diskussion um die Flüchtlinge im Mittelmeer, die vielen ertrunkenen Menschen und der Streit in Europa um die Aufteilung der Flüchtlinge kann im Vergleich zu den Erfahrungen in Deutschland nach dem Krieg aus meiner Sicht nur als unwürdig und einem reichen Europa nicht angemessen bewertet werden.
Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen: Es sind Menschen und Schicksale, die hier angekommen sind und die aufgenommen und integriert werden wollen und sollen. Die Erfahrung – gerade in Bersenbrück – hat gezeigt, das eine stabile Bevölkerungsbasis diese Wogen und Wellen gut verkraften und auffangen kann.
Mehr noch, langfristig bedeutet dieser menschliche Zuwachs eine Bereicherung für unsere Gesellschaft, für die Kindergärten und Schulen, für die Stabilisierung und Ausweitung des Arbeitsmarktes, für die Vereine und Verbände. Mit dieser Erfahrung aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit Bersenbrücks können wir getrost in die Zukunft blicken und uns über eine neuerliche Bereicherung unserer stabilen und gefestigten Kultur freuen. Eine solide Willkommenskultur ist daher selbstverständlich und trotz der einen oder anderen logistischen Anfangshürde eine klare Richtlinie in unserer Gesellschaft.

 

„Ein Baustein für einen langfristigen Frieden“

Die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen ist außerdem auch ein Baustein für einen langfristigen Frieden zwischen den Völkern. Bausteine an vielen Orten und Städten bilden ein Friedens-Gerüst, das heute schon vielerorts selbstverständlich ist, zumindest in Europa.
Wie wichtig dieser Friede zwischen Nachbarländern ist, wissen wir nicht nur aus unserer Geschichte, sondern sehen es ganz aktuell auch in Konflikten anderer Länder, etwa im Gazastreifen oder in der Ukraine.
Durch die historische Erfahrung speziell im Osnabrücker Land und hier in Bersenbrück bin ich zuversichtlich, dass die Erfahrungen und Schicksale, die Menschen mit verschiedenen Wurzeln zusammenführen, unsere Gesellschaft positiv bereichern. Vielleicht mag das für den einen oder anderen auch eine Versöhnung mit der eigenen familiären Betroffenheit sein. Ich bin mit meinem Vater, der vor zwei Jahren gestorben ist, im Jahre 1984 das letzte Mal in seine Heimat Siebenbürgen gefahren. Es war für ihn eine schmerzhafte Reise mit vielen Erinnerungen. Sein Dorf war nicht wiederzuerkennen. Fast alle Deutschstämmigen waren ausgewandert. Sein Elternhaus war halb verfallen. Die Grabsteine seiner Eltern waren entfernt worden. Am Ende hat er seinen Frieden gemacht und gesagt, dass seine Heimat jetzt endgültig in Deutschland liegt.

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