Europa: Keine Wahl wie jede andere

Nicht gewählt, dann geschockt: Für viele junge Briten ist das Brexit-Votum eine Katastrophe. Sie lernten eine Lektion, leider zu spät: Dass jede Stimme zählt.

 

Die jungen Briten, die nach dem Brexit-Votum auf die Straße gingen, weil sie sich um ihre Zukunft betrogen fühlen, überließen die Entscheidung den Alten, die überwiegend für den Brexit stimmten. 83 % der über 65-Jährigen gingen zur Wahl, aber nur 36 % der 18- bis 24-Jährigen und auch nur 58 % der 25- bis 34-Jährigen.

Wozu mich aufraffen und zur Wahl gehen – es wird schon nicht so schlimm kommen, sagten sich viele junge Pro-Europäer. Es kam am Ende noch viel schlimmer. Was unvorstellbar schien, ist eingetreten: Der Jahrhunderte alte, so oft als „Mutter der modernen Demokratie“ gepriesene Parlamentarismus in Großbritannien liegt –   nur 3 Jahre nach dem Ja zum Brexit – in Trümmern. Land wie Parlament sind verstrickt in einem schier unauflöslichen Gegeneinander.

Was die Europawahl damit zu tun hat? Viel, denn in ganz Europa wirken Kräfte und Mechanismen, wie sie in Großbritannien wirkten und weiterhin wirken.

September 2018: Zum Europatag in Kettenkamp malten Erstklässler ihr Bild von Europa.

 

Fakten statt überbordender Emotionen. Die ganze Realität sehen.

Aufgepeitscht, aufgeheizt, emotionalisiert durch einen Tsunami aus Angstmacherei, haltlosen Versprechen und Lügen, der bei vielen jedes Nachdenken unter sich begrub: So begann es in Großbritannien – und so wird auch bei dieser Europawahl in allen europäischen Ländern von sog. „Europa-Kritikern“ agiert.

Das „bürokratische Monster EU“ steht da z. B. bei EU-Gegnern nur zu gerne am Pranger. Und um den vermeintlichen Irrsinn zu belegen, mussten in Großbritannien Lügen herhalten wie die EU würde das Recyceln von Teebeuteln verbieten und sie würde Kindern unter 8 Jahren das Aufblasen von Luftballons verbieten. Das eine ist so falsch wie das andere. Gewaltige Summen kursierten da zudem als Bürokratiekosten.

Die Aufpeitschung mit dem Ziel, Bürger zu „Wutbürgern“ zu machen, folgt einer ganz einfachen Regel: mit massiven Kampagnen wird die gesamte Aufmerksamkeit aufs Negative gelenkt. Darüber bleibt die Wahrnehmung alles Positiven komplett auf der Strecke.

Die gesamte Realität im Blick haben: Nachteil wie auch die Vorteile.

Erst jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, dämmert z. B. so manchem in Großbritannien: EU-Bürokratie – das ist auch der Schutz der Arbeitnehmerrechte, das ist Sicherheit am Arbeitsplatz, das ist, um mal einen ganz anderen Bereich zu erwähnen, das EU-Verbot für höchst gesundheitsgefährdende Haarfarben in Haarfärbemittel und das Verbot von Lichtschutzfiltern in Sonnenschutzmitteln, die – nachweislich – zur Zerstörung von Korallenriffen beitragen und und und. Die vielen EU-Entscheidungen, die das Leben aller in Europa deutlich verbessert haben, werden begraben unter marktschreierischen Negativ-Kampagnen.

Gestern in den Nachrichten: Ein amerikanischer Medienwissenschaftler warnt vor 200.000 möglichen Fake-Accounts, um die Meinung in Deutschland zugunsten der Rechtspopulisten zu beeinflussen.

Wie sehr Positives gar nicht mehr wahrgenommen wird, konnte man auch hier beobachten. Die Betreuung im Kindergarten ist jetzt in Niedersachsen kostenlos. Das ist alles andere als eine Kleinigkeit, denn es bedeutet eine signifikante finanzielle Entlastung der Eltern. Gab es da mal so etwas wie spürbare Wertschätzung? Wir sind mehr und mehr aufs Negative gepolt, und das so sehr, dass wir auch die Folgen dieser verzerrten Wahrnehmung der Realität kaum mehr wahrnehmen: Wir steigern uns ins Gegeneinander und zerstören damit das Fundament allen Miteinanders – die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss.

 

Kompromissfähigkeit wird mehr denn je benötigt.

Große Volkspartei – das war einmal. Die Folge sind immer mehr Parteien. Was nichts anderes bedeutet als: Es müssen sich, wenn denn überhaupt eine Regierung zustande kommen soll, wohl immer öfter nicht nur 2, sondern 3 oder gar 4 Parteien zusammenraufen. Wie soll das gelingen ohne Bereitschaft zum Kompromiss?

Es gibt in einer Koalitionsregierung weder CDU pur noch SPD pur, Grüne pur oder FDP pur. Je mehr wir uns in Parteien differenzieren, desto mehr muss die Bereitschaft zum Kompromiss wachsen. Das ist eine zwingende Notwendigkeit, denn wie sollte ansonsten ein Land überhaupt regierbar sein?

Europa ist Vielfalt.

Unter den vielen Parteien, die zur Europawahl antreten, sind in allen Ländern First-Vertreter: Frankreich first, Italien first, Deutschland first usw. Derzeit verbindet sie der Wille zur Macht: Man muss sich zusammentun, um als Machtblock im EU-Parlament möglichst viel bisherige EU zerschlagen zu können. Würde die Macht errungen, was dann? Wer nach Ich zuerst strebt, ist zwangsweise auf Gegnerschaft, gar Feindschaft aus. Mit welchen Folgen? Kann da Gutes dabei rauskommen?

Ja, es ist unendlich mühsam, Kompromisse auszuhandeln, es wird da immer auch Frustrierte und Enttäuschte geben, mal in diesem, mal in jenem Lager, weil man nicht oder nicht zu 100 % bekommen hat, was man sich wünschte. Auch da ist die Folge bei vielen eine völlig verzerrte Wahrnehmung der Realität: Vor lauter Fixiertheit auf das, was man nicht bekommen hat, gerät völlig aus dem Blick, was durchgesetzt werden konnte. Ein Beispiel dafür bietet auch das millionenfach gelikte Rezo-Video.

 

Rezo schaffte es bis in die Nachrichten des ZDF.

Wo Rezo auf dem Holzweg ist.

Was CDU und SPD angeht, bedient Rezo in seinem Video z. B. das Klischee: alles eine Soße, beide nicht wählbar. Der Youtuber mit dem so hohen Unterhaltungswert nimmt leider viele positive Errungenschaften gar nicht wahr noch Unterschiede zwischen den Parteien.

Um in dem Fall mal bei der SPD zu bleiben: Ohne Regierungsbeteiligung der SPD gäbe es z. B. keinen Mindestlohn. Um nur ein Beispiel zu nennen. Aktuell zeigt die Debatte um die Grundrente wieder deutliche Unterschiede. In den bisherigen Jahren CDU-SPD-Koalition wurde ein ganzes Füllhorn an Wohltaten ausgeschüttet. Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, Mütterrente, Rente mit 63 und und und. Ob jede Wohltat eine sinnvolle war, darüber kann man trefflich streiten. Aber es waren Wohltaten. Und wer sie sehen will, sieht auch klare Unterschiede zwischen CDU und SPD.

40 Parteien stehen in Niedersachsen auf dem Stimmzettel zur Europawahl.

Reichensteuer, Transaktionssteuer, europäischer Mindestlohn – es gibt einen ganzen Strauß wichtiger Themen, bei denen sich CDU und SPD deutlich unterscheiden. Und was den Klimaschutz angeht, für den Rezo mit so viel Show-Talent und Begeisterung fighted: Auch da ist nicht alles eine Soße zwischen CDU und SPD. „Schulze legt Knallhart-Gesetz zum Klimaschutz vor“, titelte da jüngst die BILD-Zeitung. Gemeint ist damit die Initiative der SPD-Umweltministerin Svenja Schulze, die CO2-Emissionen deutlich stärker und schneller zu senken als bislang geplant. „Dieser Knallhart-Plan könnte in der GroKo für richtig Ärger sorgen“, prophezeit BILD. Was er ja auch tut. Es gibt sie, ist festzuhalten, die deutlichen Unterschiede – auch zwischen CDU und SPD. Man muss sie nur sehen wollen.

 

Welches Europa wollen wir?

Wollen wir ein Europa, in dem die Kräfte den Ton angeben, die Großbritannien ins Brexit-Chaos und ins totale Gegeneinander trieben? Oder ein Europa, in dem Parteien den Ton angeben, die eindeutig Ja sagen zu einem Europa des Miteinanders?

Diesmal wähle ich – dafür wirbt die EU auch mit solchen Karten.

Treffen wir eine Wahlentscheidung mit zwei geöffneten Augen, um beides zu sehen: was nicht so gut läuft in Europa – und was Europa für uns alle als Vorteile mit sich bringt. Wollen wir zurück zu einem Europa der Schlagbäume und Zollschranken, zu einem Europa der vielen Währungen, zu einem Europa, in dem wir nicht mehr die Freiheit genießen, in jedem anderen EU-Land frei leben, arbeiten, studieren zu können? Nicht zu vergessen: Der ganz großen weltweiten wirtschaftlichen und politischen Herausforderung, die kein europäisches Land mehr alleine bewältigen kann, auch Deutschland nicht, sind viel.

Bei der letzten Europawahl lag die Wahlbeteiligung in Deutschland nur bei 47,9 %.

 

Viel zu verlieren, viel zu gewinnen.

Jede Stimme zählt – ist eine der Lektionen des Brexit-Votums. Ich war mit 16 Jahren erstmalig aus Austauschschülerin in Frankreich und habe bis jetzt, über 50 Jahre später, die vielen Möglichkeiten und Freiheiten, die mir Europa geboten hat, genossen, einschließlich einer Studienzeit in Frankreich und eines schottischen Ehemanns.

Friedensnobelpreis für die EU. © Eve van Soens, EC-Audivisual Services

Ganz oben rangiert jedoch: Ich durfte Großartiges hautnah erleben – dass aus einer Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich eine deutsch-französische Freundschaft wurde. Unterschätzen wir nicht, wie sehr Europa ein Friedensprojekt ist! Wie blitzschnell innergesellschaftlicher Friede verspielt werden kann, zeigt Großbritannien. Es kann ebenso blitzschnell der Frieden zwischen Staaten dahin sein.

Diese Wahl ist keine wir die vorherigen, denn wir haben mehr denn je zu verlieren. Wir haben viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen – vor allem für die Zukunft der Jungen. Es kommt auf Ihre Stimme an!

Autor
Schlagwörter

Verwandte Beiträge

*

Top