„Wohnen da nicht lauter Russen?“

Siedlungsdächer

Eine persönliche Geschichte unserer Autorin Rita Stiens

Diese Frage hat mich, als ich nach 42 Jahren Abwesenheit nach Ankum zurückkam, völlig unvorbereitet getroffen. Was wollte man mir mit dieser Frage sagen?

Siedlungsdächer

Ankums Bevölkerung wuchs, vor allem durch Aussiedler, zwischen 1990 und 2000 um fast 2.000 Menschen.

In jungen Jahren konnte ich es nicht erwarten, aus Ankum wegzukommen. Mit gut 60 wuchs der Wunsch zurückzukehren. Back to the roots, sozusagen. Nach langer Suche hatte ich endlich eine Wohnung gefunden, die meinen Vorstellungen entsprach. Und dann die Frage: „Wohnen da nicht lauter Russen?“
In meinen Ohren klang diese Frage nach „willst Du da wirklich hinziehen?“ und irgendwie auch nach „zieh’ da lieber nicht hin“. Ich war verunsichert. So sehr, dass ich sogar einen Polizisten gefragt habe, ob es Probleme gibt in dem Viertel, in das ich ziehen will. Geerntet habe ich nur Verwunderung. Kriminalität, Jugendgangs? Nein, nicht die Spur.

Seit meiner Rückkehr nach Ankum begleitet mich das Wort „Russe“. Und jedes Mal, wenn es fällt, schwingt Unterschwelliges mit. Schwer zu sagen, was genau. Es ist jedenfalls von einer Art, dass ich nicht mit diesem Etikett versehen werden möchte.

Um auf „mein“ Haus, in das ich schließlich doch gezogen bin, zurückzukommen: Die Wohnung über mir mietete ein junges Paar, das mich neugierig machte. Die Botschaft zu diesem Neuzugang machte schnell die Runde: Es sind – genau!

Begegnungen: Ähnliche und sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Leben.

Ich habe mich mit der jungen Frau unterhalten. Sie und ihre Familie, habe ich erfahren, sind Baptisten. Da der Hochzeitstermin verschoben wurde, durften sie als Unverheiratete die gemeinsame Wohnung erst einmal nicht beziehen. Das erinnerte mich an mein eigenes Leben. Als meine streng gläubige katholische Mutter erfuhr, dass ich als Studentin in Heidelberg schon vor der Hochzeit mit meinem späteren Mann zusammengezogen war, kam es fast zum Bruch zwischen mir und ihr.
Mich könnten Baptisten, das gebe ich gerne zu, nicht für ihre – strenge – Sache gewinnen. Und den jungen Baptisten waren meine Vorstellungen vom Leben fremd, vielleicht sogar suspekt. Sie schienen lieber unter sich zu bleiben. Nicht jede Annäherung, habe ich gelernt, ist leicht. Und gelingt schon gar nicht auf Anhieb.
Wenige Monate, nachdem ich eingezogen war, zogen meine Nachbarn zur Linken aus und ich bekam eine neue Nachbarin. Als ich von ihr erzähle und ihren Vornamen nenne, ist es schon wieder da – das R-Wort. Diese Nachbarin ist fast 40 Jahre jünger als ich. Im letzten Sommer habe ich einige tolle lange Abende auf ihrer Terrasse verbracht, auch zusammen mit ihren Freunden. Es hat auch schon mal geknirscht, aber ein paar klärende Worte haben gereicht, um die Dinge ins Lot zu bringen. Manche Annäherung gelingt eben doch, sogar auf Anhieb.

Wer ist gemeint, wenn von „Russen“ die Rede ist?

Mein Vater, fiel mir ein, hatte mir mal erzählt, dass er Aussiedlern hilft, sich in Ankum zurechtzufinden. Das war vor langer Zeit, in den 1990er Jahren. Im alltäglichen Sprachgebrauch sind diese Aussiedler offenbar locker-flockig zu „Russen“ geworden. Wir denken uns nichts dabei. Die Geschichte dieser Aussiedler ist in Vergessenheit geraten.
Mein Vater hat als junger Soldat Nazi-Verbrechen im Osten noch hautnah erlebt. Und er wusste, welch’ hohen Preis Deutschstämmige in Ländern wie der Sowjetunion für diese Verbrechen bezahlten. Sie wurden zum „inneren Feind“.
Die Folge in der Sowjetunion waren ab 1941 Massendeportationen in Viehwaggons, zumeist nach Sibirien, Kasachstan und an den Ural. Der Vorwurf der kollektiven Unterstützung des Hitler-Faschismus wurde erst Mitte der 1960er Jahre fallengelassen. In den Köpfen vieler Russen blieb er aber weiterhin verankert. Wolgadeutsche gleich Nazis, dieses Stigma blieb.

Im 18. Jh. lockte Zarin Katharina die Große in großem Stil Deutsche gen Osten. Nach Hitlers Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, wurden ab 1941 allein 400.000 Wolgadeutsche nach Sibirien und Zentralasien in Arbeitslager deportiert, weil man sie kollektiv der Unterstützung des Hitler-Faschismus bezichtigte.

Über 700.000 haben nicht überlebt.

Die Torturen, vor allem die Zwangsarbeit in den Arbeitslagern, haben um die 700.000 Deutschstämmige nicht überlebt. Deutschstämmige blieben auch über die Nachkriegszeit hinaus ein Feindbild – weil sie aus Sicht der Russen eben keine Russen, sondern Deutsche waren.

700.000 Deutschstämmige haben russische Deportation und Lager nicht überlebt. © Martina Berg - Fotolia.com

700.000 Deutschstämmige haben russische Deportation und Lager nicht überlebt. © Martina Berg – Fotolia.com

Die meisten der bei uns lebenden Aussiedler haben der Unterdrückung und Verfolgung in der ehemaligen Sowjetunion den Rücken gekehrt. Hier sind sie nun – „die Russen“. Wie bitter muss das für Menschen sein, deren Familien Deportation, Arbeitslager und Verfolgung durch Russen erlebt haben?
Für die jungen Ankumer mit Aussiedler-Hintergrund liegt die Geschichte ihrer Familien, das ist jedenfalls mein Eindruck, auch weit zurück. Der Mühlstein, den sie mit sich herumschleppen, ist jedoch das Etikett „Russe“.

Das alte Ankum ist Vergangenheit, das neue hat Zukunft.

Meine Antwort auf die Frage „Wohnen da nicht lauter Russen?“ lautet inzwischen: Ich lebe unter Ankumern. Einige, wie ich, sind hier geboren, andere sind aus Dortmund oder Nortrup zugezogen und wieder andere kamen als Aussiedler aus Russland. Ach ja, eine „echte“, nicht deutschstämmige Russin war für einige Monate auch dabei. Eine klasse Frau und Reiterin, die zum Training hergekommen war.
Meine Nachbarin zur Linken rufen zu hören, ob ich nicht rüberkommen will, ist einfach schön. Es war ein Gewinn, sie kennenzulernen – sie und andere, die längst in Ankum angekommen und hier heimisch geworden sind.

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