Ein besonderes Zuhause für Menschen mit Demenz

10 Jahre „Haus Amaryllis“ in Bersenbrück: Aus diesem Anlass besuchte klartext die Hausgemeinschaft für Menschen mit Demenz – und erlebte eine außergewöhnliche Lebenswelt.

Mittagessen im Gemeinschaftsbereich der Hausgemeinschaft für Menschen mit Demenz.

An Demenz erkranken, aus den eigenen vier Wänden umziehen müssen in eine „Einrichtung“: Für viele Menschen, die Schreiberin dieses Artikels eingeschlossen, eine angstbesetzte Vorstellung. Wie leben Menschen mit Demenz im Haus Amaryllis?

Die erste Reaktion beim Betreten der Hausgemeinschaft ist: innehalten und staunen. Was für ein großer, freundlich-heller Raum, der beim Näherkommen noch weiter wird. Er öffnet sich zu einem lichtdurchfluteten Wintergarten hin und auf der anderen Seite zum Küchenbereich.

Besonders einladend und licht: der Wintergarten.

 

Offenheit und zugleich Sicherheit.

Offenheit ist wohltuend für Menschen mit Demenz – wenn sie denn zugleich Sicherheit durch Überschaubarkeit bietet, sagt Martina Büscher-Wojtun, die das Haus Amaryllis leitet. Offenheit plus Sicherheit, dafür sorgt die spezifische Ausgestaltung des großen Gemeinschaftsraums. Er bietet Nischen, kleinere und etwas größere Sitzarrangements, den Esszimmerbereich neben der Küche. Türen gibt es hier keine, aber Vorhänge, die als Raumteiler genutzt werden können. Rückzug ist hier für die Bewohner möglich, aber auch Miteinander oder Spiel- und Lernarbeit in kleinen Gruppen.

Eine Bewohnerin zieht sich zum Mittagessen gerne in diese Fernsehecke zurück.

Zu dieser Mittagsstunde sind fast alle Bewohner an den Tischen im Essbereich versammelt. Nur eine Frau sitzt abseits, in einem Sessel vor dem Fernseher. Sie fühlt sich nur dort zum Essen wohl, erklärt Pflegedienstleiterin Karin Engelke. 80 + ist das Alter der derzeitigen Bewohner. Sie sind – in unterschiedlichem Maße – an Demenz erkrankt und in unterschiedlichem Maße pflegebedürftig.

Das Ambulante Soziale Dienstleistungszentrum (ASD) ist der Träger der Hausgemeinschaft für Menschen mit Demenz im Haus Amaryllis in Bersenbrücks Lindenstraße (www.asd-ankum.de).

Hilfestellung beim Essen.

Die Essensrunde ist beim Nachtisch angekommen. Als die Besucherin etwas neugierig in ein Schälchen schaut und sagt, „ah, es gibt Schokoladenpudding“, kommt als Antwort so bestimmt wie klar „das ist Karamell“. Gestört fühlt sich diese Tischrunde offensichtlich nicht, alle löffeln weiter in aller Ruhe ihr Dessert. Am Nachbartisch stehen Pflegekräfte den Menschen zur Seite, die nicht mehr selbständig essen können.

 

Ein akzeptierendes und aktivierendes Umfeld.

Als „Beziehungsknotenpunkt“ und „Kommunikationszentrum“ bezeichnet Martina Büscher-Wojtun den Gemeinschaftsbereich. Der geht nahtlos in einen zweiten Bereich über. Dort gibt es Türen – zu den Bädern und den Zimmern der Bewohner. Diese Zimmer sind bis 20 qm groß und haben tief heruntergezogene Fenster. Zur Grundausstattung gehören Waschtisch, Fernseher, Radio, Telefon- und Internetanschluss sowie Rufanlage. Möbliert sind die Räume, in Teilen oder auch komplett, mit Möbeln aus dem Hausstand der jeweiligen Bewohner.

Grün ist eine der Bäder-Farben. Am Fußboden: Farbgleichheit zwischen dem Flur und dem Bad.

Sehr liebevoll ist vieles in dieser Hausgemeinschaft gestaltet – und vor allem demenzgerecht. Farben spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie bieten u. a. Orientierungshilfe. So ist jedes der 4 Duschbäder in einer anderen Farbe gefliest. So weiß jeder Bewohner, welches sein Duschbad ist. Farbgleichheit dagegen beim Fußboden: Der Gang vor den Badezimmern hat dieselbe Fußbodenfarbe wie den Bodenbelag im Badezimmer. Gäbe es da einen Farbunterschied, könnten die Bewohner das als Stolperfalle empfinden.

Auf den Schubladen: Bilder zur Orientierung.

Bilder sind eine weitere Orientierungshilfe. Sie helfen Bewohnern, sich mit den Küchenschränken und -Schubladen zurechtzufinden. Beim Vorbereiten des Essens mit dabei sein oder auch beim Abräumen: Selbständig sein und bleiben, so weit und so gut es geht, soll jedem ermöglicht werden. In der Küche gibt es auch einen Kühlschrank, der rund um die Uhr – ungewöhnlich für eine Demenz-Gemeinschaft – frei zugänglich ist. Wen nachts die Lust auf ein Stück Käse packt, kann sich bedienen. Warum nicht, sagt man sich im Amaryllis, das gönnen wir den Bewohnern gerne. Alles in dieser Hausgemeinschaft ist darauf ausgerichtet, den Menschen ein akzeptierendes und aktivierendes Umwelt zu bietet.

800 qm Garten. In dem großzügig angelegten, umfriedeten Garten, der zum Haus gehört, können sich die Bewohner der Hausgemeinschaft betätigen oder sich stimulieren lassen durch die vielen Farben der Blühpflanzen oder das Duft-Potpurri, das die Pflanzen bieten.

 

Die Eingangstür zu Gerdas Zimmer.

Aufs Individuum ausgerichtet.

Wie sieht der Tagesablauf der Menschen in dieser Wohngemeinschaft aus? Das hängt von der jeweiligen Person ab, sagt Karin Engelke. Wer früh aufstehen möchte, steht früh auf und frühstückt früh. Wer erst um 10 Uhr wach wird, frühstückt entsprechend später. Es gibt keine starren Vorgaben, weder bei Essenzeiten, noch bei der Nachtruhe, noch bei Besucherzeiten.

Alles in dieser Hausgemeinschaft geschieht mit Bedacht und in großer Ruhe. Das zeigte sich schon beim Mittagessen. Die Alltagsdinge brauchen ihre Zeit, von der Morgentoilette und dem morgendlichen Anziehen bis zum Schlafengehen – bei dem einen mehr, beim anderen weniger. Einige Bewohner sind aktiver, andere ruhebedürftiger.

Martina Büscher-Wojtun.

Eine einmal festgelegte Marschroute, an die man sich für lange Zeit halten kann, die gibt es im Amaryllis nicht. Wir müssen flexibel sein und bleiben, sagt Martina Büscher-Wojtun, und uns immer wieder neu auf die Menschen, die zu uns kommen, und auf die jeweilige Zusammensetzung der Gruppe einstellen. Da muss auch schon mal im Gemeinschaftsraum etwas verändert werden, damit sich jeder wohl fühlt.

Als generelle Erfahrung erfährt die Besucherin, dass sich neu hinzukommende Bewohner sehr schnell einleben und schnell anfängliche Unruhe abbauen können. In wesentlichem Maße trägt dazu bei, dass die Gruppenzugehörigkeit Halt bedeutet. Einen neuen Bewohner durch entsprechende Maßnahmen in eine Gruppe einzubeziehen, führt in der Regel zu einer Stabilisierung der Persönlichkeit.

Hier wurde kurz vor dem Foto zu Mittag gegessen. Links der Küchenbereich, vorne und rechts Vorhänge zur Unterteilung des Raums.

 

Über die Biografie den Menschen erreichen.

Familie und Freunde spielen im Amaryllis-Konzept eine wichtige Rolle. Demenz, erleben alle Betreuer in ihrem Alltag, ist eine ständige Verlusterfahrung für die daran erkrankten Menschen. Sie trotz fortschreitender Krankheit zu erreichen, bedeutet für beide Glücksmomente: Für den Menschen mit Demenz wie für den Betreuer.

Karin Engelke im Flur der Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz.

Über die Biografie lernt man im Amaryllis die Bewohner kennen. „Biographiearbeit“ zu leisten, bedeutet, so viel wie eben möglich über den Menschen zu erfahren, über seine Lebensgeschichte, seine Lebensgewohnheiten, seinen Lebensstil, seine Lebenserfahrungen, seine Interessen und Vorlieben. In der Biographie des jeweiligen Menschen finden sich die Anknüpfungspunkte, um ihn zu erreichen, zu verstehen, zu fördern.

 

Immer wieder aufs Neue Beziehungsfäden knüpfen.

Jede Kontaktaufnahme hat bei Menschen mit Demenz ihren eigenen Verlauf. Sie kann z. B. bei einem Bewohner über die englische Sprache gelingen, bei einem anderen über Tiere wie die Kuh. „Du kannst doch auch Englisch, nicht wahr“, kann ein Teil einer solchen Ansprache sein. Die Antwort war, freut sich eine Mitarbeiterin, ein „I love you“, begleitet von einem Lächeln. Jede gelungene Ansprache hat das Zeug, dem Menschen ein Lächeln, gar ein Strahlen, zu entlocken.

Eines der Wandbilder in der Hausgemeinschaft.

Was an einem Tag aber noch gut gelungen ist, kann an einem anderen ganz anders sein. Beziehungsfäden müssen immer wieder neu gesponnen werden. Menschen mit Demenz unterstützend und pflegend zu begleiten, ist eine Aufgabe, die auch hochmotiviertes und gut geschultes Personal an Grenzen bringen kann. Und das auch, weil Menschen mit Demenz in einer Innenwelt leben, von der niemand weiß, wie sie im Moment der Ansprache und des Umgangs miteinander aussieht.

Erfasst einen Bewohner Unruhe, gehört zu den Erfahrungen der Pflegekräfte, kann es helfen, an eine Kollegin abzugeben, die in dem Moment das akzeptiertere Gegenüber sein kann. Als schwierig, zeigt der klartext-Besuch in der Dienstbesprechung, wird bei der Arbeit in der Hausgemeinschaft  jedoch nicht der Umgang mit den Demenzerscheinungen empfunden. Da bekomme man, ist zu hören, sehr viel von den Menschen zurück.

Hilfsmittel Rollstühle und Rollatoren.

Schwierig sei das Körperliche, die körperliche Belastung, die geleistet werden muss, wenn Menschen sich nicht mehr eigenständig bewegen und fortbewegen können. Damit diese schwere Arbeit nicht zur Überlastung führt, hole man sich Unterstützung durch eine Kollegin. Männer sind im Team die Ausnahme. Da gibt es nur einen. Ausreichend hoch muss die Anzahl der Bezugs- und Pflegepersonen in der Demenz-Hausgemeinschaft sein, aber zum Wohle der Bewohner auch überschaubar. Außerdem sollte die Betreuer-Fluktuation so gering wie möglich sein.

Knapp 600 qm für die Wohngemeinschaft. Die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz liegt im Erdgeschoss des Hauses Amaryllis und ist knapp 600 qm groß. Er gibt dort 15 Einzelzimmer.

 

Statt Pflege“fall“: Mensch sein und bleiben.

Die menschenorientierte Philosophie des Amaryllis umzusetzen, dazu bedarf es der Menschen. Wirklichkeit und wirksam wird diese Philosophie erst, wenn sie von allen Mitarbeiten gelebt wird, von denen in der Hauswirtschaft ebenso wie von den Altenpflegerinnen und jedem anderen des großen Teams. Interne und externe Schulungen nennt das ASD als Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung, dazu ständige Reflexion und viel Interaktion unter allen Mitarbeitern.

Dienstbesprechung: Das Amaryllis-Team besteht aus 25 Mitarbeitern. Der intensive Austausch ist ein wichtiger Baustein des Konzepts.

Bei einer Dienstbesprechung im Haus Amaryllis zeigt sich u.a., wie lange zahlreiche Mitarbeiter bereits zum Team gehören, zu Bezugspersonen wurden, und wie sehr sie Erinnerungen an die Menschen begleiten. „Gibt’s hier auch Bohnenkaffee“, ist eine der liebevoll erzählten Anekdoten, habe eine Bewohnerin bei ihrem Einzug als erstes gefragt. Was immer auf dem Speiseplan stand: Eine Bewohnerin wollte nur ihr Lieblingsessen Kartoffelbrei und Rührei – was sie, wann immer ihr danach war, auch bekam.

Gedenkbuch für eine Verstorbene.

Vielfältig sind die Vorlieben und Neigungen. Die bevorzugte Ausstattung eines Bewohners waren Anzug und Krawatte. Und so hielt man es weiterhin: Auch im Amaryllis wurde dafür Sorge getragen, dass die tägliche Garderobe aus Anzug und Krawatte bestand. Bienenstich und Apfelkuchen verbinden sich mit einer anderen Bewohnerin als Erinnerung bzw. mit deren Familie und den Familienbesuchen.

Die Erinnerungen betreffen Menschen, die über Jahre in der Hausgemeinschaft lebten und die inzwischen gestorben sind. Im Haus Amaryllis gehört der Tod hautnah zum Leben. So erinnert in der Hausgemeinschaft für Menschen mit Demenz eine Gedenkecke an die gerade erst (am 20. März) verstorbene Änne W. Für jeden Verstorbenen wird im Haus ein Gedenkbuch gestaltet.

 

Für Edeltraud gedeckt, zeigt das Namens-Set.

Sehen, hören, verstehen, berühren.

Ein menschenwürdiges Leben bis zum letzten Atemzug: Zahlreichen Menschen ist das in einer Pflegeeinrichtung nicht oder nicht in ausreichendem Maße vergönnt. Warum nicht, zeigt das Amaryllis. Es braucht zum einen ausreichend Personal, um das zu gewährleisten. Er braucht darüber hinaus eine am Individuum ausgerichtete Einstellung zur Pflege – damit der Mensch Mensch sein und bleiben kann und nicht zum “Fall“ wird, zum Pflege“fall“.

Ein Denkanstoß für Politiker können Zeilen sein, die den Abschluss einer Info-Schrift des ASD zum Haus Amaryllis bilden. Um die Sätze der renommierten amerikanischen Psychotherapeutin Virginia Satir in der deutschen Pflegelandschaft für alle Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es noch Umdenken, Veränderung – und Geld. Den Weg zu ebnen, wäre Sache der Politik und der gesamten Gesellschaft.

Denkwürdige Worte von Virginia Satir, die sich weltweit als „Mutter der Familientherapie“ einen Namen gemacht hat.

Die Krankheit Demenz hat für die Schreiberin dieses Berichts nicht an Schrecken verloren. Der Besuch im Amaryllis hat jedoch gezeigt, dass es möglich ist, trotz dieser Krankheit seinen Lebensweg auf menschenwürdige Weise zu Ende zu gehen.

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