Eröffnet: „Was man zum Leben braucht“

Die in Bersenbrück eröffnete Ausstellung „Was man zum Leben braucht“ ist der Kristallisationspunkt eines einzigartigen Projekts zum Thema Neubeginn nach Krieg, Unfreiheit, Flucht.

Bernhard Mecklenfeld (Bildmitte, im blauen Hemd) konnte sich über eine überwältigend große Gästeschar freuen.

„Überwältigt vom Zuspruch“ war Bernhard Mecklenfeld, der für den Initiator des Projekts „Was man zum Leben braucht“ die Ausstellung am 12. Mai eröffnete. Sein besonderer Dank galt Dr. Jutta Stalfort, der „guten Seele des Projekts“. Dicht an dicht standen die um die 150 Gäste während der Eröffnung mit Reden und musikalischen Beiträgen des Gymnasiums Bersenbrück. So dicht, dass sich kaum jemand mehr vom Fleck rühren konnte und sogar, trotz geöffneter Fenster, die Luft knapp wurde.

Initiator des Projekts ist der „Arbeitskreis Geschichte der Juden in der Samtgemeinde Bersenbrück“, in Kooperation mit dem Landschaftsverband Osnabrück Land e. V, dem Partnerschaftsverein Bersenbrück-Tinténiac e.V. und Krabat.

Was man zum Leben braucht: Lesenswerte Texte.

Es war ein einzigartiger Gästemix aus Schülerinnen und Schülern, Lehrern, Künstlern aus der Region, aus Frankreich und Polen, Politikern, Flüchtlingen, Vertriebenen, die hier eine neue Heimat fanden, und Interessierten aus den Orten der Samtgemeinde. Die Künstler, so Bernhard Mecklenfeld, hätten den vielen Beteiligten, die Werke für die Ausstellung schufen, geholfen, „Gedanken und Gefühle in verschiedenen Formen auszudrücken.“

In Scharen strömten die Gäste kurz von 19.00 Uhr zur Ausstellungseröffnung.

Die Gedanken und Gefühle, die in den Ausstellungsobjekten sichtbar und hörbar werden, kreisten um das Thema Neubeginn nach Krieg, Unfreiheit, Flucht. Ein großes Thema, ein politisches wie gesellschaftliches Thema, ein aktuelles, ein ständiges Thema, ein lokales wie internationales, ein bewegendes und herausforderndes Thema – und vor allem ein zutiefst menschliches.

Hinten: Künstlerin Valy Cloarec.

Schicksal Flucht, jeder Flüchtling ein Schicksal, jeder Neubeginn eine Herausforderung: Die Bedeutung dieser Worte erschließt sich wohl erst, wenn sie, wie in dieser Ausstellung, mit Leben gefüllt werden. Diese Ausstellungseröffnung war nicht nur ein hiesiges Ereignis, sondern die Auftaktveranstaltung für ein Projekt, das über die Samtgemeinde hinausreicht (mehr dazu am Schluss des Artikels).

Die kleine Band mit Sängerin Jeniffer Mbossa, Maik Kronhard (Klavier) und Leo Steinhaus (E-Bass).

Ministerialrat Sickelmann (rechts) bei seiner Ankunft.

Emotionale Intergration.

In ihren Begrüßungsworten zur Ausstellungseröffnung würdigten alle Redner die Bedeutung des Themas Neubeginn. Ministerialrat Franz-Josef Sickelmann (Leiter des Amts für regionale Landesentwicklung Weser-Ems) sprach von der Weltoffenheit Bersenbrücks, die diese Eröffnung bestätige. Wohnen, Sprache, Arbeit, so Sickelmann, seien Voraussetzung für Integration, aber auch die „emotionale Intergration“. Schirmherr der Ausstellung ist Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering. Er erinnerte in seinem Redebeitrag u. a. an die Vertriebenen, an ihre – trotz aller anfänglichen Härten –  gute Integration und ihren Beitrag zur guten Entwicklung der Region.

Ort & Öffnungszeiten. Die äußerst sehenswerte Ausstellung Am TÜV 3 (frühere Kfz-Zulassungsstelle) in Bersenbrück ist noch bis zum 11. Juni zu sehen. Öffnungszeiten: Do und Fr. 10 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 19.00 Uhr sowie auf Anfrage. Für eine Führung durch die Ausstellung wenden Sie sich bitte an: jutta.stalfort@web.de. Die Webseite zum Projekt: www.was-man-zum-leben-braucht.de

Von links: Die Polnisch-Übersetzerin Agata Lis, Kreisrat Matthias Selle, Werner Lager (stellv. Samtgemeindeürgermeister), Bernhard Mecklenfeld, Prof. Dr. Pöttering, der Französisch-Übersetzer Axel Yenga-Bolamba und Dr. Jutta Stalfort.

Was brauchen Menschen, um neu zu beginnen? Hinter dieser Frage stehen andere wie: Wovor sind sie geflohen? Was haben sie auf ihrer Flucht erlebt? Wie schwer wiegt, auch nach Jahrzehnten noch, der Verlust der Heimat? Einzigartig ist, was ein kleiner Kreis von Organisatoren mit der Unterstützung vieler mit diesem Projekt auf die Beine gestellt hat!

Die Werke stießen auf großes Interesse.

Schulen und Schüler (Von-Ravensberg, August-Benninghaus, Berufsbildende Schule) haben ihre Kreativität eingebracht, Senioren und Senioreneinrichtungen (St. Josef-Stift, ASD), Flüchtlinge, Flüchtlingshelfer, Künstler, der Heimatverein Bersenbrück, die Heilpädagogische Hilfe. Eine Woche lang haben im Vorfeld der Ausstellung Künstler mit unterschiedlichen Gruppen an Kunstprojekten gearbeitet. Beteiligt waren und sind Künstler aus der Region sowie aus den Partnerstädten Tinténiac (Frankreich) und Stettin (Polen). Gezeigt werden Werke, die in den Gruppen entstanden, und Exponate einzelner Künstler.

Das Publikum: international und generationenübergreifend.

Nichts wühlt die Menschen in Deutschland seit 2015 so sehr auf wie die Flüchtlinge, die der Syrienkrieg, die Gewaltherrschaft des IS, die Krieg, Terror und Not in Afrika aus ihren Heimatländern vertrieben haben und weiterhin vertreiben. Fast 300 dieser Menschen kamen 2015/2016 in der Samtgemeinde an. Für die Initiatoren des Projekts  „Was man zum Leben braucht“ war diese jüngste Fluchtgeneration der Anstoß, den Blick zu weiten und auf die letzten Jahrzehnte zu schauen.

Teil eines Objekts: Vertriebene nach dem Krieg.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben Tausende Menschen in der Samtgemeinde Bersenbrück eine neue Heimat gefunden. Nach dem Krieg waren es zwischen 1945 und 1948 Vertriebene, in den 80-er und 90-er Jahren Russlanddeutsche. In den 1960-er Jahren war jeder vierte Bersenbrücker Flüchtling oder Kind von Eltern, die fliehen mussten oder vertrieben worden waren. In den 1990-er Jahren, nach Auflösung der Sowjetunion, zogen viele Russlanddeutsche in diese Region. Heute machen sie einen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent aus.

Unter den Gästen: auch die Jüngsten der jüngsten Flüchtlingsgeneration.

Vor welchen Herausforderungen stehen Menschen, die sich ein neues Leben aufbauen müssen? Wie schaffen sie es, diese Herausforderungen zu meistern? Wer hier in den letzten Monaten an Flüchtlingstreffen teilgenommen hat, erlebte scheinbar unbeschwerte Menschen. Dass dieser Anschein trügt, wird nur selten sichtbar. Auch bei den jungen Eltern Ster und Wassim, die im Alter von 30 bzw. 34 Jahren mit ihren Kindern aus Syrien nach Alfhausen kamen, ließen z. B. im Gespräch mit klartext nur kurze Momente ahnen, was die Familie erlebt und welchen Leidensweg sie hinter sich hat.

Die Künstlerin (in Schwarz) und die Schüler-Akteure bei der Performance auf dem Parkplatz.

Filmprojekt Von-Ravensberg-Schule.

Bewegende Performance.

Auf die Flucht angesprochen, sagt Ster nur „die Kinder hatten Fieber“, aber ihr ganzer Körper drückte die Angst um das Leben der Kinder aus, die mit den Eltern fünf Tage im Dunkeln in einem Lkw aushalten mussten und die Unsicherheit, wie das alles enden würde. Dann der Moment, in dem der Fahrer sie absetzte, in der Nähe einer Tankstelle. Da standen sie nun– völlig allein – und hatten keine Vorstellung davon, wo sie waren und wie es weitergehen könnte (mehr dazu hier).

Performance: Wärme als Symbol.

In einer bewegenden und nachdenklich stimmenden Performance gaben Schüler des Gymnasiums Bersenbrück (Kunstkurs Herr Rohlfs) unter Leitung der Gehrder Künstlerin Barbara Jamin-Sassmannshausen den Ausstellungsgästen ihre Gedanken und Gefühle mit auf den Weg. Wasser, Brot, Wärme boten sie auch den Zuschauern dar. Vorgetragen wurde zudem ein Text, der deutlich machte, wie Wirtschaftsinteressen der EU in Afrika durchgesetzt werden und dazu beitragen, dass den Menschen in ihren Heimaten Lebensgrundlagen entzogen werden.

Wer zu einem Foto kommen wollte, musste schon auf einen Stuhl steigen.

Bis in die nachfolgenden Generationen hinein.

Was braucht man für den Neuanfang? Ster und ihrer Familie reichte im Sommer 2015 die Kirchengemeinde St. Johannis die helfende Hand. Ihr Engagement steht für viele helfende Hände in der Samtgemeinde. So wichtig die Hilfe ist, die viele Flüchtlinge erfuhren und erfahren: Niemand kann ihnen abnehmen, ihr persönliches Schicksal zu meistern und den langen Weg in ein neues Leben zu gehen.

Interesse bei allen Altersgruppen.

Mit dem großen zeitlichen Bogen, den die Ausstellung schlägt, zeigt sie zugleich das Verbindende zwischen den unterschiedlichen Flüchtlingsschicksalen der letzten Jahrzehnte. So mancher Vertriebene, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Alter heutiger Flüchtlingskinder in die Samtgemeinde kam, lebt inzwischen in einem Seniorenheim. Das erste Dach über dem Kopf bedeutete für alle zu allen Zeiten das Ende der Flucht, war aber nur ein allererster Anfang. Viele Leben waren und sind dauerhaft begleitet von traumatischen Erlebnissen, die das Leben prägten und prägen – bis in die nachfolgenden Generationen hinein. Was Flucht und Neuanfang bedeuten, davon werden im Mai und im Juni auch Zeitzeugen berichten – ein Vertriebener, eine Spätaussiedlerin und eine syrische Familie.

Lesens- und sehenswert: Der ausführliche Katalog mit allen Beteiligten und Kunstwerken.

Eines der vielen Exponate.

„Sehnsucht neue Heimat – Ankommen im Nordwesten“

Das hiesige Projekt „Was man zum Leben braucht“ ist Teil des Gesamtprojekts „Sehnsucht neue Heimat – Ankommen im Nordwesten“. Es gibt fünf weitere Teilprojekte in Aurich, Norden, Papenburg, Lingen und Osnabrück. Die drei Landschaften im Nordwesten Niedersachsens – Emsländische Landschaft, Landschaftsverband Osnabrücker Land, Ostfriesische Landschaft – haben sich zu diesem Gemeinschaftsprojekt zusammengeschlossen, um über kulturelle Projekte einen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen und Zugewanderten im ländlichen Raum zu leisten. Fünf künstlerische Projekte aus Niedersachsen, darunter dieses, wurden in die sogenannte Best-Practice-Datenbank der Kultusministerkonferenz für Kulturprojekte von und mit Geflüchteten aufgenommen.

Barbara Jamin-Sassmannshausen aus Gehrde gestaltete diese Skulptur aus Weidenruten.

Weitere Bausteine des Projekts im Mai und Juni.

Mit der Ausstellung ist das Projekt „Was man zum Leben braucht“ noch nicht vollendet. Es gibt weitere Veranstaltungen wie ein Konzert, einen Workshop und die Zeitzeugengespräche. Über die Hintergründe der Zeitzeugen informiert die Volkshochschule Osnabrücker Land auf ihrer Webseite.

Zeitzeugengespräche, jeweils 18.30 Uhr, Marktschule Bersenbrück.

Donnerstag, 18. Mai: Mit dem Vertriebenen Anton Exner. Anton Exner erreichte mit seiner Mutter und zwei Geschwistern im April 1946 – nach einer dreitätigen Fahrt im Güterwaggon mit annähernd 1.000 Menschen – aus Glatz in Schlesien Bersenbrück. Weil der Bauer, der ihnen Wohnraum anbietet, nur 3 Personen aufnehmen kann, wird der 9-jährige Anton für 4 Jahre von seiner Familie getrennt. Auch wenn er in gute Hände kommt: Es sind harte Jahre, es ist ein bitterer Neubeginn. Anton Exner, noch heute Schuhmachermeister in Hastrup, erinnert sich an seine Kindheit in Schlesien, an die Umstände der Vertreibung und die Jahre des Neubeginns in Fürstenau.

Konzert: Am 19. Mai (19.00 Uhr, in der Aula des Gymnasiums) gibt es ein Konzert des Chors und des Orchesters des Gymnasiums Berenbrück unter dem Titel „Freiheit. Neuanfang“.

Ein weiterer Blick ins Publikum.

Donnerstag, 1. Juni: Mit der Spätaussiedlerin Olga Langemann. Olga Langemann und ihr Mann kamen 1994 aus der Ukraine. Trotz guter Aufnahme ist der Neuanfang in Bersenbrück geprägt von Ängsten und Missverständnissen. Sie wird schildern, wie fremd ihr dieses Land anfangs war und welche Überwindungen es sie kostete, auf die Menschen zuzugehen.

Zum Abschluss der Eröffnung: die Performance auf dem Parkplatz.

Donnerstag, 8. Juni: Mit der Flüchtlingsfamilie Eshmawe. Die Mutter flüchtete im Herbst 2013 mit sechs Kindern aus Syrien nach Deutschland, 2016 kam dann der Ehemann und Vater nach. Eltern und Kinder werden aus ihrem Leben vor und während des Krieges, von der dramatischen Flucht über das Mittelmeer von Alexandria nach Italien und von ihrem Neustart in Bersenbrück erzählen.

27. bis 29. Juni: Offener Workshop. In Zusammenarbeit mit dem Osnabrücker Verein Abenteuer Kunst e. V. und dem Jugend- und Bildungshaus Bersenbrück. Der Workshop ist frei für alle Interessierten, Erwachsene wie Kinder. Er wird geleitet von der Osnabrücker Künstlerin Monika Witte und der afghanischen Künstlerin Leila Mousavi.

 

Autor
Schlagwörter ,

Verwandte Beiträge

2 Kommentare

  1. Leo Steinhaus

    Hallo,
    ich habe gerade Ihren Artikel gelesen und wollte sagen, dass ich (Leo Steinhaus) NICHT (!!!) E-Gitarre sondern E-Bass spiele. Um eine kurze Erklärung zu liefern: Das ist fast das gleiche Instrument, nur eine Oktave (8 Ganztöne/12 Halbstöne) tiefer und mit weniger Saiten.
    Mit freundlichen Grüßen
    Leo Steinhaus

Schreibe einen Kommentar zu Leo Steinhaus Antworten abbrechen

*

Top