Um 1920 beginnt die Geschichte zweier Werkstätten an der Langen Straße in Gehrde. Sie sind der Stoff für ein so interessantes wie lehrreiches Kapitel Zeitgeschichte.
„Krass!“ Wie angesagt Retro heute ist, zeigt die Ein-Wort-Reaktion mancher auf die Wohnung im originalen 50-er Jahre-Look, die sich Holger Paulsen in seinem Haupthaus an der langen Straße 60 in Gehrde eingerichtet hat. Das erweckte er in den letzten Monaten außen wie innen zu alter neuer Schönheit (mehr dazu hier). Mit jeder Woche verändert es sich derzeit noch, ist aber so gut wie fertig. Was sich Holger Paulsen für das hinterer Haus vorgenommen hat, das zwei Werkstätten beherbergt, gleicht einer Herkulesaufgabe.
Ein einzigartiges Erbe bewahren.
Fast 100 Jahre Leben liegen zwischen dem Kauf des Hauses durch Georg von Höne und dem Verkauf an Holger Paulsen. Heimatgeschichte ist eine Leidenschaft des Gehrdes Otto Burzlaff. Der Grafikdesigner sammelt, was immer er an alten Ansichtskarten zu Gehrde finden kann, an Katalogen, Heften, Büchern. Er weiß aus seinen Unterlagen, dass Georg von Höne 1921 seine Frau Lina geheiratet hat. Er wird in der Heiratsbekundung als Uhrmacher bezeichnet und hatte wohl zuvor das Haus gekauft, um dort zu arbeiten und mit seiner Familie zu leben.
Es gab die Uhrmacherwerkstatt, erzählt Otto Burzlaff, und es wurde in dem hinteren Haus alles mögliche repariert wie Fahrräder und Motorräder. Die Uhrmacherwerkstatt war zunächst im Vorderhaus und wurde erst sehr viel später in das hintere Gebäude gebracht. Dort fiel alles lange in einen Dornröschenschlaf. Und so wurde Holger Paulsen mit den Werkstätten ein einzigartig gut erhaltenes Kapitel Zeitgeschichte anvertraut, das Zeugnis ablegt vom Leben und Arbeiten zwischen den 1920-er und den 50-er/60-er Jahren. Wer heute im Alter von 60 + ist, entdeckt darin die Lebenszeit der Großeltern.
Harald Kellner, einer der beiden von-Höne-Enkel, starb 2015, kurz vor dem Verkauf des Hauses. Dass bewahrt wird, was mit den Werkstätten erhalten blieb, erzählt Otto Burzlaff, „lag ihm sehr am Herzen“. Das verbindet die Enkel-Erben mit Holger Paulsen, der sich zum Ziel gesetzt hat, aus den Werkstätten ein Museum zu machen. Alle alten Maschinen möchte er wieder zum Laufen bringen. Und das ist nur ein Teil der Aufgabe, die in Gänze noch gar nicht zu ermessen ist.
Eine Fundgrube sondergleichen.
Holger Paulsen hat zum Beispiel bislang erst einige der Schubladen in der Uhrmacherwerkstatt wie auch in der Dreher- und Fräserwerkstatt geöffnet. Diese ersten Stichproben zeigen, dass Hunderte, gar Tausende größerer Werkstücke und winzig kleiner Teile, so für Taschen- und andere Uhren, dort lagern.
Zu den Werkstätten betrieb Georg von Höne seit den 1920-er Jahren im vorderen Haupthaus auch einen Laden. In dem gab es vieles. Und zwar „edle Sachen“, wie Otto Burzlaff sagt, wie feine Bestecke, Kaffee- und Ess-Geschirr, Eheringe, Uhren, Schmuck. Im 2. Weltkrieg wurde die Dreher- und Fräserwerkstatt zum „kriegswichtigen Betrieb“. Etwa 30 Jahre liegen zwischen dem Start des Handwerkbetriebs von Georg von Höne, der Zeit als „kriegswichtiger Betrieb“ in den 1940-er Jahren und dem Beginn der Wirtschaftswunderjahre in den 1950-ern. Was für Jahre waren das?
Ein Leben auf dem Pulverfass.
Wie eine 20- bis 30-jährige Lebensspanne damals aussah, kann sich heute wohl kaum mehr ein 20- bis 30-Jähriger vorstellen. Als Georg von Höne das Haus erwarb, lagen der furchtbare „Steckrübenwinter“ – die große Hungersnot von 1916/17 – und das Ende des 1. Weltkriegs erst ein, zwei Jahre zurück. An die vielen, die in diesem ersten Weltenbrand zwischen 1914 und 1918 auf den Schlachtfeldern ihr Leben verloren, erinnern in Gehrde wie andernorts Gedenkstätten und ihre Inschriften. Ein neues Leben nach Hungersnot und Krieg, darauf müssen Georg von Höne und die Menschen seiner Zeit ab den 1920-er Jahren gehofft haben.
Was ein einziger Geldschein erzählen kann.
Ein 50 Mark-Schein ist eines der Zeugnisse aus der Uhrmacherwerkstatt. Holger Paulen hat es aus dem Futteral einer Taschenuhr herausgenommen. Dort schlummerte der Schein, fein säuberlich zusammengefaltet, über Jahrzehnte. „Berlin, 24. Juni 1914, Reichsbankdirektorium“ ist darauf zu lesen. Dieser Schein ruft in Erinnerung, welchen Preis die Menschen noch Jahre nach dem Krieg für die Beteiligung Wilhelms II. an diesem Gemetzel zahlten, das zu einem weltumspannenden wurde: den Preis einer weiteren Lebenskatastrophe – der Hyperinflation von 1923. Durch sie verloren fast alle alles, denn Geld war schlichtweg nichts mehr wert.
Der Verfall des Geldes war rasant. Wer 1923 Lohn bekam, konnte schon am nächsten Tag so gut wie nichts mehr dafür kaufen. Wer seinen festgesetzten Lohn erst am Ende eines Monats erhielt, hatte so gut wie nichts zum Leben, weil die Preise zwischenzeitlich explodiert waren. 800 Reichsmark kostete zum Beispiel am 9. Juni 1923 ein Ei, 320 Milliarden (!) Reichsmark kostete es am 2. Dezember. Geld wurde in Schubkarren und Wäschekörben transportiert. Inflationsgeld, dann die Rentenmark, dann wieder die Reichsmark: Viele Geldscheine wurden durch die Turbulenzen entwertet und taugten dann nur noch als Andenken. Mit den Unmengen entwerteter Inflations-Geldscheine wurden sogar Wände tapeziert.
Nur eine kurze Atempause.
Die sich ab 1924 bessernde Wirtschaftslage wird auch bei Georg von Höne, bei seinem Werkstattbetrieb und dem Laden, angekommen sein. 1922 hatte das Paar die Tochter Anna bekommen. Sie ist eine der damals geborenen Väter und Mütter der heute über 60-Jährigen. Ein Leben in friedlichen Zeiten war diesen Frauen und Männern nicht lange vergönnt: Als sie Jugendliche waren, überfiel Hitler-Deutschland 1939 Polen. Das war der Beginn des verheerendsten aller Kriege.
Für diesen Krieg wurde auch die Gehrder Dreher- und Fräserwerkstatt gebraucht: Sie wurde zum „kriegswichtigen Betrieb“. Vorne im Laden Haushaltswaren, Uhren, dazu die Produktion von Kriegsgütern wie Geschosshülsen: Das waren die Säulen des damaligen Betriebs. Die Kriegswirtschaft war Teil der Lebensgrundlage, ein Stück Lebenssicherheit – und bedeutete zugleich Lebensbedrohung. Wie viele Kriegstote in Gehrde zu beklagen waren, auch davon zeugen die Namen auf den Gedenktafeln. Am 8. Mai 1945 hatte das Kriegsgrauen ein Ende. In sicheren und gesicherten Lebensbahnen verlief das Leben damit aber noch nicht. Auch davon legt das Haus Zeugnis ab.
Retten, was zu retten war.
Ein eingemauertes Motorrad, das zufällig beim Abriss einer Mauer gefunden wird: Was heute der Stoff für eine Anekdote ist, war nach dem Krieg bitterer Ernst. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die in dieser Region in allen Orten gab, erlebten mit dem Kriegsende und der Ankunft der Briten ihre Befreiung. Bei vielen Deutschen aber regierte die Angst.
„Die Engländer stationierten in Gehrde Polen, Exilpolen, die mit ihnen gekämpft hatten, weiß Otto Burzlaff. Wie, war eine bange Frage bei vielen, würden die sich verhalten? Vor den Wirren der Zeit, zu der später auch der Strom der Vertriebenen gehörte, wurde sicherheitshalber vieles wie zum Beispiel ein Motorrad in Sicherheit gebracht.
In diesen Zeiten der Bewältigung der Kriegsfolgen feiern Georg von Höne und seine Frau 1946 ihre Silberhochzeit. 25 Jahre haben die von Hönes damals in ihrem Haus in Gehrde gelebt und gearbeitet. Sie haben in dieser Zeit die Nachwehen des 1. Weltkriegs erlebt, die fast 6 Jahre des 2. Weltkriegs, die Nachkriegswirren, und sie stehen vor der Hausforderung, die neuen Zeiten zu gestalten.
Was für ein Glück!
Die besseren Zeiten, sie beginnen mit den 1950-er Wirtschaftswunder-Jahren. Das Mobiliar der 50-ger, mit dem Holger Paulsen die Wohnräume im Vorderhaus eingerichtet hat, schlägt die Brücke zu dieser Lebensphase der Familie von Höne. „Man haust nicht mehr – man wohnt wieder“, lautete eine Zeitschriftenwerbung für Möbel aus dieser Zeit. Auch Georg von Höne schaltet damals Anzeigen. Zu den Schätzen, die Otto Burzlaff hütet, gehört auch ein Inserat aus dieser Zeit. In dem wird angepriesen, was der Laden zu bieten hat.
In der ersten Hälfte der 1950-er Jahre werden auch die beiden Enkel von Georg von Höne geboren. Anders als die Großeltern und die Eltern haben sie ein Leben ohne Kriegskatastrophen vor sich. Und die Familie kann 1981 auch noch die Diamantene Hochzeit von Georg und Lina von Höne feiern. Georg von Höne starb 1985 im Alter von 90 Jahren.
72 Jahre hält sie seit 1945 nun schon an, die kriegsfreie Zeit. Was für ein Glück! Was es braucht, um dieses Friedensglück nicht zu gefährden, brachte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestags des Kriegsendes in einer Aufsehen erregenden Rede auf den Punkt. Seine damalige Bitte an junge Menschen ist aktueller denn je. Vollendet Holger Paulsen sein Museumswerk, könnten diese Sätze ein Begleittext zu den Geschosshülsen sein, die in den Jahren produziert wurden, als die von-Höne-Werkstatt ein „kriegswichtiger Betrieb“ war. Richard von Weizsäcker schloss seine Rede mit den Worten:
„Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder gegen Türken,
gegen Alternative oder gegen Konservative,
gegen Schwarz oder gegen Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.“*
*http://webarchiv.bundestag.de/archive/2006/0202/parlament/geschichte/parlhist/dokumente/dok08.html
Und hier weitere Bild-Impressionen: