Roma Korytkowska ist eine der vier Personen, die in der ZEIT über ihre Arbeitsbedingungen bei adidas gesprochen haben. klartext traf sie in ihrer Wohnung in Bramsche.
Seit dem Erscheinen des Artikels fühlt sich Roma Korytkowska in der adidas-Kantine wie eine „Aussätzige“. „Aber meine Familie“, sagt sie, „ist stolz auf mich.“ Den Kollegen, die sie meiden, macht sie keinen Vorwurf. Sie versteht deren Beweggründe. Angst ist das Wort, das über allem schwebt.
Angesprochen auf ihre Ausführungen in der ZEIT, sagt Roma Korytkowska, habe sie an ihrem Arbeitsplatz niemand: „Kein adidas, kein Betriebsrat, kein Manpower.“ Manpower ist die Leiharbeitsfirma, bei der Roma Korytkowska unter Vertrag ist.
Die 42jährige Polin redet engagiert drauf los und spricht dabei ihr ganz eigenes Deutsch. Man muss sich erst einmal hineinhören in ihre Sprache, in der das Wort spazieren zum Beispiel ungemein reich an Bedeutungen ist. Dabei ist Romas Leben alles andere als ein Spaziergang.
Null Vertrauen in adidas-Verantwortliche.
Die adidas-Beteuerungen, dass Geschäftsleitung und Betriebsrat nichts von Beschwerden gewusst hätten, kann Roma Korytkowska nicht mehr hören. Dafür hat sie in ihrer adidas-Zeit zu viele gegenteilige Erfahrungen gemacht.
Einfach mal zur Geschäftsleitung oder zum Betriebsrat laufen, können die Arbeiter ohnehin nicht. Und das nicht nur wegen der langen Wege in dem riesigen Komplex. adidas ist durchgetaktet, und der adidas-Sicherheitsdienst hat – draußen wie drinnen – alles im Griff. Mitarbeiter sind kontrollierte Rädchen im Getriebe. Sie müssen bleiben, wo sie eingesetzt werden; Handys, so Roma, dürften nicht an den Arbeitsplatz mitgenommen werden.
„Für Beschwerden“, sagt Roma Korytkowska, „gibt es einen Postkasten. Aber der steht in der Kantine. Zu dem Kasten traut sich kaum jemand hin, weil alle anderen sehen, wer dort etwas einwirft.“ Dennoch haben Menschen den Kasten genutzt. Roma Korytkowska berichtet von Beschwerden, die einfach in der Versenkung verschwunden sind. Dass auf Beschwerden eingegangen wurde, hat sie nicht erlebt. Im Gegenteil.
Eines Tages habe eine Kollegin eine Beschwerde mit ihrem vollen Namen eingeworfen. „Ich habe sie gewarnt“, sagt Roma, „ihr gesagt, dass sie ihren Namen nicht nennen soll.“ Kurz darauf wurde die Kollegin gefeuert. Behauptet wurde, so Roma, sie habe geklaut.
Ein Spielball im Moloch adidas.
Roma Korytkowska will und kann nicht glauben, dass in Deutschland erlaubt und möglich ist, was ihr widerfährt. Hier nur einige Beispiele für ihr Arbeitsleben bei adidas: „Wenn ich zur Frühschicht um sechs Uhr zur Arbeit muss“, erzählt sie, „bin ich um fünf Minuten vor fünf Uhr am Bus. Der Bus fährt lange von Bramsche nach Rieste, denn er sammelt an diversen Haltestellen Menschen ein.“
Ein Arbeitstag kann für Roma dann so aussehen: Sie arbeitet 3,25 Stunden und dann wird ihr gesagt, dass keine Arbeit mehr da ist. Pech für sie. Sie kann gehen. Und wie kommt sie zurück nach Bramsche? Ein Bus würde erst in ein paar Stunden fahren. Wenn sie nicht in der Kantine auf den Bus warten wolle, sei ihr schon mal gesagt worden, solle sie sich doch ein Taxi nehmen.
„Ein Taxi kostet 30 Euro“, empört sich Roma. Das ist mehr Geld, als sie an dem Tag verdient hat. Also bleibt nur eines: stundenlang warten, bis sie mit dem Bus zurückfahren kann. Für Roma ist der Tag gelaufen. Sie hat ihn bei adidas verbracht, bekommt aber nur 3,25 Stunden bezahlt.
Auf Roma Korytkowskas letzten Gehaltsabrechnungen stehen als auszuzahlender Betrag 824,67 Euro für 182,21 Stunden Arbeit bzw. 854,84 Euro für 164,00 Stunden Arbeit (für Nachtschichten gibt es einen Zuschlag von 25% – gut zwei Euro die Stunde). Wie welche Rechnung zustande kommt und warum sie trotz aller Arbeit dauernd Minusstunden auf ihrem Konto hat – das zu ergründen, ist Roma Korytkowskas bis heute nicht gelungen.
Roma Korytkowskas Arbeitstag könnte auch so aussehen: Sie kommt zur Frühschicht in ihre Abteilung, arbeitet dort ein paar Stunden und wird dann abkommandiert in eine andere Abteilung. Bis zu dem anderen Arbeitsplatz sind es etwa 10 Minuten Fußweg. Sie muss beim Verlassen ihrer Abteilung ausstempeln und bei Ankunft in der anderen Abteilung einstempeln. Bezahlt bekommt sie die Zeit für den Fußmarsch nicht. Im ungünstigen Fall wird sie unterwegs angesprochen, es muss etwas geklärt werden, und dann sind 20 bis 25 Minuten weg. Unbezahlte Zeit – weil adidas sie von A nach B schickt. Da das öfter vorkommt, werden diverse Stunden gar nicht bezahlt.
In der anderen Abteilung angekommen, bekommt Roma an diesem Tag gesagt, Schluss sei hier um 18.30 Uhr – Stunden nach ihrem eigentlichen Schichtende an dem Platz, an dem ihr Arbeitstag begann. Sie muss bleiben, den langen Arbeitstag in Kauf nehmen und kann Termine, die sie für den Tag gemacht hatte, nicht einhalten. Kann sie überhaupt verlässlich planen? „Nein“, sagt Roma, „ständig Überraschungen“.
Für adidas sind die Leiharbeiter eine ideale Manövriermasse. Man kann sie nach Belieben anfordern und wieder wegschicken. Der Glanz, mit dem sich die Marke umgibt, steht in schrillem Kontrast zu den Arbeits- und Lebensbedingungen vieler, die sich adidas in Rieste mit Haut und Haaren verschreiben müssen.
Stehengelassen und abgewimmelt.
Roma Korytkowska, gelernte Grafikdesignerin, kennt sich aus im europäischen Arbeitsmarkt. Sie ist eine der vielen osteuropäischen Frauen und Männer, die in ganz Europa auf der Suche nach Arbeit und einem einigermaßen auskömmlichen Leben sind. Romas Schwester arbeitet in Kopenhagen. Ein Bruder ist Busfahrer in London. Beiden geht es gut. „Sie können“, sagt Roma, „sogar essen gehen. Mein Bruder verdient 12 Pfund die Stunde.“ Das sind umgerechnet etwa 16 Euro.
Bei Roma stehen 8,50 Euro, der Mindestlohn, im Vertrag. Sie glaubt aber, dass sie in Wirklichkeit viel weniger bekommt, weil Stunden, die sie gearbeitet hat, auf mysteriöse Weise im Dickicht des Arbeitszeitkontos verschwinden. Ist dem so? „Jetzt nicht“, „keine Zeit“, das sind Antworten, die sie bekommt. Roma erlebt nur, stehengelassen und abgewimmelt zu werden. Bis heute ist sie mit ihren Fragen nicht durchgedrungen.
An sieben Tagen die Woche zur Arbeit.
Roma Korytkowska hat gerade ein paar Tage Urlaub. Ihren Bruder oder ihre Schwester zu besuchen, kann sie sich nicht leisten. Nach dem Urlaub wird sie wohl an sechs Tagen die Woche ihre Schichten schieben. Und das kann für ihre Wochenenden bedeuten: Schicht am Samstag von 6 Uhr morgens bis 14 Uhr, Ankunft zu Hause am späteren Nachmittag. Roma ist an einem solchen Tag morgens um vier Uhr aufgestanden, um den frühen Bus zu bekommen. Sie ist kaputt, wenn sie nach Hause kommt, und möchte dann nur noch früh am Abend ins Bett.
Wenigstens ein freier Sonntag inklusive gemütlichem Sonntagabend? Schön wäre es. „adidas redet von einem freien Tag“, sagt Roma, „aber wenn ich am Sonntag um 22 Uhr zur Nachtschicht antreten muss, ist das kein freier Tag. Ein freier Tag wäre es, wenn ich erst wieder am Montag arbeiten müsste.“
Haben die Leiharbeiter zu hohe Erwartungen?
An dem Freitag (5. Juni), als klartext mit Roma Korytkowska spricht, ist im Bersenbrücker Kreisblatt zu adidas zu lesen, dass viele Leiharbeiter nicht realisieren, dass sie nur Anspruch auf ein niedriges Mindestgehalt haben; dass diese Leiharbeiter „ein Plus einkalkulieren, wenn sie beispielsweise aus Polen für mehrere Monate nach Rieste ziehen.“ Sind die Leiharbeiter also selber Schuld an der schlechten Lage, in der sich viele befinden?
Den Leiharbeitern, erzählt Roma sinngemäß, wird in Polen das Blaue vom Himmel versprochen. Sie hat Leiharbeiter erlebt, die in dem Glauben herkamen, sie müssten nur 30 Euro für Strom bezahlen. Miete und sogar eine warme Mahlzeit am Tag würden von der Firma bezahlt. Außerdem rechne man ihnen vor, wie viel Geld sie verdienen werden, wenn sie nur viel und gut arbeiten.
Ich muss also nur fleißig sein und viel arbeiten, denken sich da viele. Dass sie gar nicht so viel arbeiten können, weil sie nicht angefordert werden oder nach drei Stunden Arbeit wieder weggeschickt werden – damit rechnet niemand. Hat man es ihnen in aller Deutlichkeit gesagt?
Der gesunde Menschenverstand legt nahe, davon auszugehen, dass die Arbeiter nicht aufgeklärt werden. Schließlich brauchen die Anwerber ausreichend Nachschub an Arbeitskräften. Würde die volle Wahrheit gesagt, ließen sich wohl nur wenige dazu bewegen, von Polen nach Rieste zu kommen.
Leiharbeitsfirmen mieten Häuser und Wohnungen an, um darin Arbeiter unterzubringen. Nach klartext-Informationen zahlen Arbeiter monatlich 250 Euro warm pro Person plus 30 Euro für Strom. Ein warmes Essen in der adidas-Kantine kostet, so Roma, 4,50 Euro.
Roma Korytkowska fürchtet um ihre Wohnung.
Roma Korytkowska lebt in Bramsche in einer Wohnung im Gewerbegebiet, umzingelt von gewerblichen Betrieben. Schön gelegen ist die Wohnung nicht, aber sie ist groß. Sie leben dort zu Viert: Roma, ihr Lebensgefährte, dazu Romas Sohn und seine Frau. Sie leben unter einem Dach und teilen sich Wohnzimmer, Küche und Bad. 920 Euro warm kostet die Wohnung.
Alles war gut, bis Romas Sohn bei adidas gefeuert wurde – nach einem Unfall im Werk, während einer Magen-Darm-Erkrankung. Auch ihr Lebensgefährte bekam die Kündigung. Nach nur zwei Monaten. Warum? Auch auf diese Frage findet Roma keine Antwort. Nun ist sie die einzige in der Familie, die noch Arbeit hat.
adidas will ein Gutachten zu den Arbeitsprozessen erstellen lassen. Das dauert natürlich Monate. Außerdem habe man Mitarbeitersprechstunden beim Management und beim Betriebsrat eingerichtet. Werden sie angenommen? Roma berichtet von einer Kollegin, deren Mann einen der begehrten adidas-Verträge hat. Sie möchte sich beschweren, würde es aber nie tun, weil sie Angst hat, dass es ihrem Mann zum Nachteil gerät. Menschen wie diese Kollegin, die einen Ehemann oder andere Verwandte im Werk haben, gibt es so einige bei adidas.
Nichts wie weg aus diesen Verhältnissen.
Roma Korytkowska will es durch Arbeit zu etwas bringen, alle in ihrer Familie wollen arbeiten und kein Hartz IV. Sie möchten vor allem die Wohnung behalten. Aber daraus wird wohl nichts. Die vier sollen und müssen sich preiswerteren Wohnraum suchen. Wo den finden? Der Markt für preiswerte Mietwohnungen ist leergefegt.
Während Roma Korytkowska mit klartext redet, liegt ihr Lebensgefährte im Krankenhaus. Er kann nicht mehr, sagt Roma, er ist „psychisch fertig“. Ihr Bruder in England, sagt Roma, sage ihr immer wieder „komm’ zu mir“. Sie würde lieber heute als morgen weggehen aus Bramsche und aus Deutschland, aber dann wären auch alle Rentenansprüche weg. Roma zahlt in die deutsche Rentenkasse ein und muss, wie sie sagt, fünf Jahre zusammenbekommen, damit nicht alles für die Katz’ war. Und so zählt sie die Monate, bis dieser Zeitpunkt erreicht ist. Vielleicht bleibt ihr aber auch nur, hier zu bleiben und durchzuhalten, so schwer es auch ist.