Keine Abschiebung, weil der Familie Schaden droht und ein Kind krank ist? Das war einer der vielen Asyl-Fälle, in denen das Verwaltungsgericht Osnabrück 2016 ein Urteil sprach.
Welcher Asylbewerber darf bleiben, wer muss gehen? Dieses Thema beschäftigt, wie auch das Thema Abschiebung, die Gemüter – und die Gerichte. Wie wird entschieden? In einem 1. Beitrag schaute klartext auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück zu einem Pakistani, bei dem es um religiöse Verfolgung ging (mehr dazu hier). In diesem 2. Fall geht es um eine Roma-Familie aus Albanien (siehe auch Kommentar am Schluss dieses Artikels).
Per Eilantrag versuchte eine albanische Familie, die Abschiebeandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus der Welt zu schaffen. Das gelang nicht. Zwei der wichtigen Sätze aus dem Urteil sind: „Insbesondere können wirtschaftliche Gründe kein Asylrecht begründen“; zum anderen der Satz, die „angebliche Benachteiligung als Roma reicht ebenfalls nicht aus, um zu einem anderen Ergebnis zu gelangen“.
Die Albaner dürfen abgeschoben werden.
Albanien ist ein bitterarmes Land und um die Lage der Roma in Albanien ist es besonders schlecht bestellt. Das sah auch das Gericht so und stellte in dem Urteil fest: „Zwar stoßen die Roma in der Bevölkerung teilweise auf eine ablehnende Haltung. Sie sind auch gesellschaftlich ausgegrenzt, was dazu beiträgt, dass ihre Lebensbedingungen im Vergleich zu ethnischen Albanern deutlich schlechter sind.“ Allerdings bemühe sich die Republik Albanien, so das Gericht, „den Schutz von Minderheiten zu verbessern“ und verwies auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Juni 2015.
Schützt die Krankheit des Kindes vor Abschiebung?
Die medizinische Versorgung ist in Deutschland sehr viel besser als in Albanien. Und so verwiesen die antragstellenden Albaner auf die gesundheitlichen Probleme eines ihrer Kinder. Ob dieser Umstand erheblich ist, wäre, so das Gericht, als mögliches „inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis“ von der Ausländerbehörde zu prüfen. Das Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hatte in diesem Fall aber lediglich zu prüfen, ob in das Zielland Albanien abgeschoben werden darf. Genauer gesagt: Ob der Familie in Albanien ein „ernsthafter Schaden“ droht.
Als Vollstreckungshindernis gilt z. B. der bei uns verfassungsrechtlich gebotene Schutz von Familie und Ehe. Das kann bedeuten: Familien nicht zu trennen oder ein Paar, das kurz vor der Heirat steht. Auch krankheitsbedingte Gefahren für den Ausländer können ein solches Hindernis sein.
Nur „ernsthafter Schaden“ kann eine Abschiebung verhindern.
Droht der Familie durch die Abschiebung ein „ernsthafter Schaden“? Als ernsthafter Schaden gilt die „Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ oder eine eine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“. All‘ das droht den Klägern, so das Gericht, in Albanien nicht.
30 Monate Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte zudem verfügt, dass ab dem Tag der Abschiebung nach Albanien ein 30-monatiges Einreise- und Aufenthaltsverbot beginnt. Die Abgeschobenen dürfen also 30 Monate lang nicht erneut nach Deutschland einreisen und sich in Deutschland aufhalten. Ob die Frist von 30 Monaten zulässig ist, bezeichnete das Gericht als „fraglich“. Diese Angelegenheit sei „im Hauptsacheverfahren“ zu klären. Ausreisen müssen die Albaner trotzdem. Es sei ihnen, so das Gericht, „zuzumuten, das Verfahren aus dem Ausland heraus zu führen“. Sollten dringend Gründe vorliegen für „eine sofortige Wiederkehr“ nach Deutschland, so das Gericht, könne im Einzelfall eine „Betretenserlaubnis gem. § 11 Abs. 8 des Aufenthaltsgesetzes beantragt werden“. Das letzte juristische Wort ist in diesem Fall also noch nicht gesprochen. Die Abschiebung wird jedoch vollzogen.
Fluchtursachen bekämpfen.
Ein Kommentar von Rita Stiens.
Auch in Europa gibt es noch viel zu tun in Sachen Fluchtursachen bekämpfen. So ist Albanien nach wie vor das Armenhaus Europas und die Lage der Sinti und Roma in der Regel von bitterer Armut gekennzeichnet. Auch in anderen osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Rumänien leben viele Sinti und Roma am Rande der Gesellschaft, bar aller Chancen.
Ich habe 10 Jahre lang die Marco-Polo-Reiseführer für Ungarn geschrieben, viel Zeit in dem Land verbracht und hautnah erlebt, wie verhasst „Zigeuner“ – in Ungarn sind es vor allem Roma – sind. Ihnen Arbeit zu geben, brachte einem z. B. den massiven Zorn der Nachbarn ein. Man wolle dieses Pack nicht, wurde mir gesagt, und werde es zum Dorf hinausprügeln. Was durchaus wörtlich zu nehmen war. Bestärkt in dieser Haltung werden die Bürger immer wieder auch von Bürgermeistern, die ihre Dörfer„zigeunerfrei“ halten wollen.
Zigeunermusik: Einst eine kulturelle Institution.
Dass die Ausgrenzung zunimmt statt abnimmt, zeigte sich schon vor Jahren. „Zigeunermusik“, geprägt von geradezu legendären Musiker-Dynastien wie z. B. der der Lakatos, hatte in Ungarn einmal den Rang einer kulturellen Institution und war bei den Urlaubern ein Hit. „Scheiß Zigeunermusik“ giftete eines Tages ein Restaurantbesitzer, als meine ungarische Freundin ihn fragte, warum er keine Kapelle mehr beschäftigt. Es ging nicht um die Kosten. Man wollte sie einfach nicht mehr. Gespielt werden sollte nur noch „ungarische“ Musik.
„In Kombination mit der insgesamt starken Ausgrenzung der Roma“, schrieb ich schon vor fast 10 Jahren im Marco-Polo-Reiseführer, „verlieren sie mit dem Verschwinden der Musikgruppen aus Restaurants und Hotels leider auch noch einen der letzen Orte gesellschaftlicher Akzeptanz.“
Nein, Deutschland kann nicht alle Probleme dieser Welt lösen und auch nicht alle Probleme europäischer Länder. Aber Politiker könnten, wie oft und schon lange gefordert wird, viel mehr Druck ausüben, um osteuropäische Länder zu bewegen, die soziale Lage der Sinti und Roma zu verbessern, Menschenrechte einzuhalten und den Prozess eines gesellschaftlichen Umdenkens voranzubringen.
Ende Mai 2015 schrieb z. B. der jüngst verstorbene Klaus Harpprecht in der „Zeit“ in einem Kommentar: „Kaum eine Woche vergeht, in der wir nicht durch eine Meldung über neue Diskriminierungen der Roma-Minderheit oder eine Provokation durch den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán aufgeschreckt würden. Ein Rätsel: Warum sich die Geduld der EU-Kommission und ihres Präsidenten, der Mehrheit des Europäischen Parlaments oder des Rats der Regierungschefs nicht längst erschöpft hat.“
In Ungarn hat sich die Lage der Roma unter Orbán massiv verschlechtert. Wer Fluchtursachen glaubwürdig bekämpfen und verhindern will, dass Sinti und Roma weiterhin ihre Heimat verlassen, sollte damit beginnen, Politikern wie Victor Orbán nicht länger den roten Teppich auszurollen. Beobachter der ungarischen Politik wissen schon lange: Ein „zigeunerfreies“ Ungarn wäre Orbán das Liebste, und jede Roma-Familie, die nach Deutschland zieht, ist ein Erfolg in diese Richtung. Die Augen vor der Lage der Roma verschließen (in Ungarn wie in anderen Ländern), weil Orbán und andere die Balkan-Route schlossen? Das ist eine zynische, menschenverachtende Politik und zudem eine, die der Roma-Flucht aus ihren Heimatländern Vorschub leistet.