Bersenbrück und Wernher von Braun: Wissenschaft ohne Moral?

Stein des Anstoßes: der Straßenname Wernher von Braun im Bersenbrücker Industriegebiet.

Soll die Bersenbrücker Wernher-von-Braun-Straße umbenannt werden oder nicht? Darüber wird der Stadtrat in seiner Sitzung am 2. Juli entscheiden. Ein Antrag von Bündnis90/Die Grünen auf Umbenennung liegt dem Stadtrat seit über einem Jahr vor.

Stein des Anstoßes: der Straßenname Wernher von Braun im Bersenbrücker Industriegebiet.

Stein des Anstoßes: der Straßenname Wernher von Braun im Bersenbrücker Industriegebiet.

„Das Wort Mittäter trägt nicht, es waren Täter“.

Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Bersenbrück gingen der Frage nach „Wer war Wernher von Braun“.

Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Bersenbrück gingen der Frage nach „Wer war Wernher von Braun“.

Die Diskussion über Wernher von Braun wirft eine Frage auf, die nie an Aktualität verloren hat: Die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaftlern für ihr Tun, nach der Verantwortung von Ingenieuren und Technikern. Bereits 2006 wurde in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora eine Dauerausstellung eröffnet. Zur Eröffnung dieser Ausstellung sprach Karsten Uhl, Historiker dieser KZ-Gedenkstätte, mit Blick auf Techniker und Ingenieure – und vor allem mit Blick auf Wernher von Braun – den Satz: „Das Wort Mittäter trägt nicht, es waren Täter“ (vgl. www.buchenwald.de/159/).

Auf Wunsch der Bersenbrücker CDU-Fraktion befassten sich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums – unter Leitung von Gabriele Prell-Grossarth, der Fachlehrerin Geschichte – mit dem Thema Wernher von Braun. Das Ergebnis ihrer Arbeit präsentieren sie in der Stadtratssitzung am 2. Juli. Die Schüler sprechen sich für eine Umbenennung aus.

 

Der „Fall“ Wernher von Braun ist nicht einzigartig.

Im Gedächtnis geblieben ist Wernher von Braun vor allem als Vater der bemannten Mondlandung. Seine Erfolge in den USA haben lange verdeckt, was im Laufe der letzten 20 Jahre immer mehr ans Licht kam: Dass er schon vor der Mondlandung ein Held und ein Star war – in den dunkelsten Jahren des Hitler-Faschismus, als Erfinder der Flüssigrakete „V2“.
Zwischen 1933 und 1945 ist Wernher von Braun nicht das einzige Genie in Deutschland. Zur selben Zeit wie er arbeitet auch das Konstrukteurs-Genie Ferdinand Porsche an der Verwirklichung seines großen Traums. Zwei Männer, zwei Genies, parallele Entwicklungen. Beider Lebenswege stehen prototypisch für zahlreiche andere.

Wernher von Braun (1912 – 1977) wird als Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun in Wirsitz (heute Polen) als Sohn eines ostpreußischen Gutsbesitzers geboren. Er tritt zu Beginn seines beruflichen Karrierewegs in die NSDAP ein und wird Mitglied der SS.

Michael J. Neufeld schrieb die viel beachtete Biographie „Wernher von Braun. Visionär des Weltraums - Ingenieur des Krieges“.

Michael J. Neufeld schrieb die viel beachtete Biographie „Wernher von Braun. Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges“.

„2.742 Arbeiter hat das Werk 1939, und bis 1944 steigt ihre Zahl auf 17.365. Es ist eine Belegschaft, die aus Menschen besteht, die größtenteils unter unwürdigen Lagerbedingungen leben und arbeiten müssen: russische und polnische Kriegsgefangene, Häftlinge aus Konzentrationslagern, Zwangsarbeiter aus Belgien, Frankreich und Holland.“* So sieht es bei VW in Wolfsburg aus, als Ferdinand Porsche sich daran macht, seine Ingenieurs- und Konstruktionsträume in die Tat umzusetzen.
Nur etwa 150 km von Wolfsburg entfernt, im Konzentrationslager Mittelbau-Dora in Nordhausen bei Göttingen, „wirkt“ ab 1943 Wernher von Braun. Nachdem Peenemünde auf Usedom, der eigentliche Standort der Raketenentwicklung, bombardiert worden war, schuften und sterben nunmehr Tausende KZ-Häftlinge in Mittelbau-Dora in Stollen tief unter der Erde für den Bau der V2. Diese Waffe wird vor allem gegen London und Antwerpen eingesetzt, und sie wird etwa 8000 Menschen an ihren Einschlagsorten töten. Durch die grausamen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Stollen und den Baracken der KZs sterben für den Bau der Raketen etwa 20.000 Menschen.

1937, im Alter von 25 Jahren, wird Wernher von Braun der Leiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde (Usedom). Hier vollbringt er seine erste Großtat: die V2-Projektplanung (A4) und die Entwicklung der ersten Großrakete der Welt. Wernher von Braun präsentiert die A4 im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ und wird vom „Führer“ persönlich zum Professor ernannt. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels erfindet für diese Waffe die Bezeichnung Vergeltungswaffe 2 (V2).

 

Keine persönliche Verantwortung?

Maria von Borries erinnerte als Zeitzeugin am 2. Juni in der Bersenbrücker Von-Ravensberg-Schule daran, wie der Nazi-Terror das Leben vieler Menschen grausam zerstörte.

Maria von Borries erinnerte als Zeitzeugin am 2. Juni in der Bersenbrücker Von-Ravensberg-Schule daran, wie der Nazi-Terror das Leben vieler Menschen grausam zerstörte.

Werner von Braun macht seine Erfindungen nicht fernab aller Realität, abgeschottet im stillen Kämmerlein. Er ist mittendrin. Wernher von Braun ist im Konzentrationslager Mittelbau-Dora immer wieder vor Ort. Unterlagen und Zeugenaussagen belegen, dass er sieht und weiß, was geschieht. Unterlagen belegen auch, dass er sogar persönlich in Buchenwald „geeignete Häftlinge“ ausgesucht hat.
Wie Dokumente des Münchner Instituts für Zeitgeschichte belegen, ging auch bei VW die Initiative zur Einstellung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen immer wieder von der Geschäftsleitung aus. Noch im März 1944 fordert Ferdinand Porsche KZ-Häftlinge aus dem Konzentrationslager Natzweiler an. „Wir wollen“, so Ferdinand Porsche, „die ganze Höhle mit KZ-Häftlingen belegen lassen.“*
Beide Genies, Wernher von Braun wie auch Ferdinand Porsche, bedienen sich des Menschen„materials“, also der Gefangenen und Häftlinge, denen der Hitler-Faschismus jedes Menschsein abgesprochen hatte. Beide haben die Lager und KZs nicht eingerichtet. Sie hätten sie wohl auch nicht gewollt. Aber sie nutzen für ihre Zwecke, was das Regime bietet, und nehmen den Tod Tausender in Kauf. Trotz dieser Verstrickung in die Machenschaften des Hitler-Faschismus bleiben Wernher von Braun wie auch Ferdinand Porsche ihr Leben lang bei der Haltung, dass sie keine persönliche Verantwortung tragen.

Der VW-Konzern hat seine Verantwortung mit voller Unterstützung des Enkels von Ferdinand Porsche, Ferdinand Piëch, geradezu vorbildlich aufarbeiten lassen und sich – als Unternehmen – zur Schuld bekannt. Tabuisiert blieb aber die Frage nach der Verantwortung der Personen, die an der Spitze des Unternehmens standen.

 

Erschütternd: Das Buch von Maria von Borries. Titel: Euer Name lebt. Zur Geschichte der Juden in der Region Bersenbrück. ISBN 978-3-932147-30-2, Rasch-Verlag Bramsche

Erschütternd: Das Buch von Maria von Borries. Titel: Euer Name lebt. Zur Geschichte der Juden in der Region Bersenbrück. ISBN 978-3-932147-30-2, Rasch-Verlag Bramsche

„Wir hatten keine moralischen Bedenken“

Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension, das ist ein von Wernher von Braun überlieferter Satz. Und er sagt weiterhin: „Wir hatten keine moralischen Bedenken wegen einer möglichen späteren Nutzung unseres Geistesprodukts. Wir waren nur daran interessiert, den Weltraum zu erkunden. Für uns war die Frage die, wie wir die goldene Kuh am besten melken konnten.“** Wernher von Braun sagt diesen Satz Ende 1950. Die goldene Kuh – das war Nazi-Regime.
Wernher von Braun paktierte bedenkenlos mit diesem Regime. Er „akzeptiert die Sklavenarbeiter“, als Preis für etwas, das seiner Meinung nach „eine Verbesserung für die Menschheit bedeutet.“** Eine Verbesserung für die Menschheit – um den Preis millionenfacher Unmenschlichkeit!

Wernher von Braun kannte Hitlers Ziele, er wusste um das Sterben in den KZs, er wirkte daran mit, den Krieg voranzutreiben, u.a. durch die Entwicklung von Raketen, die in der Lage sein sollten, die USA zu erreichen.

Wernher von Braun molk die Kuh, die Nazis – und lernte nichts aus seinen zwölf Jahren im Hitler-Faschismus. Moralische Bedenken blieben ihm fremd. Das Angebot des Heeres angenommen zu haben, wird er viele Jahre später sagen, habe er nie bereut.**
Wie Wernher von Braun ist auch Ferdinand Porsche der Auffassung, es reiche der Hinweis, unpolitisch gewesen zu sein. „Der Professor“, sagt ein Sekretär Ferdinand Porsches, „war ein völlig unpolitischer Mensch. Man hat ihm später angedichtet, er hätte Adolf Hitler brüskiert, indem er ihm den deutschen Gruß Heil mein Führer verweigert hat. Das stimmt nicht. Er hätte den Hitler sogar mit Nasenreiben begrüßt, wenn es für seine Arbeit nützlich gewesen wäre.“* Werner von Braun agiert ebenso. Michael J. Neufeld hat sich mit der Biographie „ Wernher von Braun. Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges“ einen Namen gemacht. Er bringt von Brauns Haltung auf den Nenner „amoralischer Opportunismus.“**

 

Die US-Armee bewahrte ihn vor den möglichen Folgen seines Handelns.

Der genialen Mathematikerin Emmy Noether entzogen die Nazis 1933 die Lehrerlaubnis.

Der genialen Mathematikerin Emmy Noether entzogen die Nazis 1933 die Lehrerlaubnis.

Menschen wie Wernher von Braun oder Ferdinand Porsche sind ihre eigene Elite, nur sich selbst und den eigenen Interessen verpflichtet, ignorant gegenüber dem Rest der Welt und den Auswirkungen der politischen Verhältnisse auf das Schicksal der Menschen.
Wernher von Brauns „Deus ex machina“, also die rettende Hand, wird die US-Armee. „Sie bewahrte ihn vor den möglichen Folgen seines Handelns.“** Die Amerikaner hatten schon vor 1945 versucht, der deutschen Raketenwissenschaftler habhaft zu werden, um deren Know-how zu nutzen. Und so landete Wernher von Braun nicht in Nürnberg auf der Anklagebank, sondern ab 1959 bei der NASA. Dem heißen Krieg war der kalte Krieg gefolgt. So war es für die USA ein Schock zu erleben, dass die Sowjetunion 1957 den ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 startete. Ex-Nazi-Wissenschaftler oder nicht: Spätestens zu dem Zeitpunkt war alle Moral vergessen.

Umbenannt werden könnte die bisherige Wernher-von-Braun-Straße zum Beispiel in Emmy-Noether-Straße (1882 – 1935). Albert Einstein sagte in einem Nachruf auf diese herausragende Frau: „Es war das bedeutendste mathematische Genie seit der Einführung der höheren Bildung für Frauen.“ Noether begründete die moderne Algebra und leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der theoretischen Physik. Die Nazis entziehen ihr 1933 die Lehrerlaubnis, weil sie aus einer jüdischen Familie stammt und Sympathie für pazifistische Ideale zeigt. Emmy Noether stirbt im Alter von nur 53 Jahren in den USA.

 

Eklatantes moralisches Versagen.

Wer sich heute, 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, fragt, wie es zum Grauen des Hitler-Faschismus kommen konnte: Es sind Menschen vom Schlag Wernher von Brauns, die dazu beitragen, Terror-Regimes Macht zu verleihen und deren Macht zu festigen. Dass sich Menschen auch anders verhalten haben, zeigen glücklicherweise viele Beispiele. „Kleine Leute“ waren darunter und große Namen. So weigerte sich zum Beispiel Konrad Adenauer 1933, damals war er Oberbürgermeister von Köln, Adolf Hitler nach seiner Machtergreifung zu empfangen.
Adenauer zahlte den Preis dafür. Er musste in ein Kloster flüchten und dort vier Jahre ausharren, bis er in sein Haus in Rhöndorf ziehen konnte. Ein Amt konnte er erst wieder nach dem Kriegsende übernehmen. Willy Brandt, um ein SPD-Beispiel zu nennen, ging ins Exil und arbeitete dort im Widerstand gegen Hitler.
Allein an seiner Leistung gemessen, ist Wernher von Braun ein Genie. Gemessen an Ethik und Moral steht er sein Leben lang für ein eklatantes Versagen. Wohin Wissenschaft ohne die Befähigung zu Moral und Verantwortung führt, hat nicht nur der Hitler-Faschismus gezeigt.

 

** Michael J. Neufeld, 
Wernher von Braun. Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges, München, Siedler Verlag, 2009, 688 Seiten.

* Rita Stiens, Ferdinand Piech. Der Automacher, Ullstein Taschenbuch, 2001, 204 Seiten

 

 

 

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