adidas-Erfahrung: „Man verkauft seine Seele“

Hunderte von Menschen arbeiten bei adidas in Rieste als Leiharbeiter. Versprochen hatte adidas mal etwas ganz anderes.

Was ist los bei adidas in Rieste? Die Vorwürfe, die erhoben werden, werfen ein Schlaglicht auf ein „System adidas“. In diesem System dominiert – entgegen den anfänglichen Versprechungen – die Leiharbeit mit all’ ihren negativen Begleiterscheinungen für die Menschen.

 

Hunderte von Menschen arbeiten bei adidas in Rieste als Leiharbeiter. Versprochen hatte adidas mal etwas ganz anderes.

Hunderte von Menschen arbeiten bei adidas in Rieste als Leiharbeiter. Versprochen hatte adidas mal etwas ganz anderes.

Große Versprechen – eine ganz andere Realität.

Vor knapp zwei Jahren, im Juli 2013, hat adidas sein weltweit größtes Logistikzentrum in Rieste eröffnet, begleitet von viel Applaus, großen Erwartungen und großen Versprechen. Damals hieß der adidas-Standortleiter Lars Stefanowski und im Werk arbeiteten 160 Mitarbeiter, davon etwa ein Viertel Niederländer. Weitere 100 Mitarbeiter sollten noch 2013 eingestellt werden, weitere 150 im Jahr 2014, meldete das Bersenbrücker Kreisblatt am 3. Juli 2013.

Der Standortleiter betont, heißt es dort weiter, adidas wolle mit dem Versandzentrum „Wurzeln in der Region“ schlagen. Viele Mitarbeiter kämen aus dem Umland, Zeitarbeitskräfte würden nur „in absoluten Spitzenzeiten“ beschäftigt. So eine Spitzenzeit sind die Sommermonate Juni bis August.

  • Nach den Ankündigungen von 2013 hätte adidas im Frühjahr 2015 um die 410 adidas-Mitarbeiter haben müssen oder gar mehr – und keine Zeitarbeiter.
  • Die Realität: adidas hatte im Frühjahr 2015 nur 281 adidas-Mitarbeiter – plus 583 Leiharbeiter, darunter viele aus Osteuropa. Die Spitzenzeit kommt erst noch. Für die rüstet sich adidas gerade.

 

Die adidas-Belegschaft: Fast 68% Leiharbeiter.

Der hohe Anteil Leiharbeiter ist bei adidas offensichtlich nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ist es polnisch, ukrainisch, tschechisch, russisch, mazedonisch, kroatisch, türkisch, kurdisch? Martin* konnte nur vermuten, welche Sprache hinter den Worten steckte, die er während seiner 14 Monate bei adidas hörte, aber nicht verstand. Er kam im Herbst 2013 als Leiharbeiter zu adidas nach Rieste.

Als Martin einstieg, war nach seinen Worten vieles noch in Ordnung. Er hatte auch noch viele Kollegen, mit denen er sich in seiner Sprache verständigen konnte. Ihm machte die Arbeit Spaß, und er hoffte auf mehr: Auf den Sprung in die Top-Gruppe, die der Mitarbeiter mit einem adidas-Vertrag.

 

Ab dem Frühjahr 2014 änderte sich das Bild.

Es sind zwei Ereignisse, die für Martin mit einer Entwicklung verbunden sind, die er als „es wurde knallhart durchgegriffen“ beschreibt. Punkt 1: Es kam mit Roland Weber ein neuer Standortleiter. Punkt 2: Die Fußballweltmeisterschaft.

Eine der Folgen: Die Zahl der Leiharbeiter stieg und stieg. Das babylonische Sprachgewirr nahm zu. Unter dem Dach von adidas saßen zu diesem Zeitpunkt, so Martin, gleich vier Arbeitgeber für die Mitarbeiter.

Arbeitgeber Nr. 1: adidas

Arbeitgeber Nr. 2: Die Leiharbeitsfirma Manpower

Arbeitgeber Nr. 3: Die Leiharbeitsfirma Otto

Arbeitgeber Nr. 4: Die Leiharbeitsfirma Rasant.

Unter dem Dach von adidas mischten sich also nicht nur Menschen vieler Sprachen. Diese Menschen hatten und haben auch Verträge mit unterschiedlichen Unternehmen und damit mit unterschiedlichen Arbeitgebern.

 

klartext sprach mit einem Ex-Mitarbeiter im Hause adidas Rieste. Sein Name ist nicht Martin. Der tatsächliche Name ist der Redaktion bekannt. Ob Mitarbeiter bei adidas Grund haben, Angst zu haben? Fakt ist: klartext stieß bei der Recherche auf Angst. Bei ungesicherten Arbeitsverhältnissen ist das auch wenig verwunderlich.

 

Hingehen, wohin einen die Leiharbeitsfirma schickt.

Sich beschweren, wenn es Probleme gibt? Dagegen steht das System Leiharbeiter, denn eines eint Leiharbeiter, egal welcher Sprache: Sie können es sich nicht leisten „aufzumucken“. Die Leiharbeitsfirma verdient mit adidas Geld, und der Kunde adidas will zufriedenstellend bedient sein.

Es liege in der Natur der Sache, wird gemutmaßt, dass es sich eine Leiharbeitsfirma nicht mit adidas wegen aufmüpfiger Mitarbeiter verscherzen will und darum eher einen Mitarbeiter zur Raison bringt, als ihn zu unterstützen. Außerdem kann ein Leiharbeiter von einem Tag auf den anderen an ein anderes Unternehmen ausgeliehen werden. Wohin er ausgeliehen wird, liegt in der Entscheidung der Leiharbeitsfirma. Der Betroffene muss dahin gehen, wohin man ihn schickt.

 

Der Betriebsrat: Kann den Erwartungsdruck nicht erfüllen.

Martin hat an der Wahl der adidas-Betriebsräte teilgenommen und berichtet vor allem von einem Betriebsratsmitglied, das sich noch sehr für die Interessen der Arbeitnehmer eingesetzt hat. „Ich weiß, dass der Betriebsrat“, sagt Martin, „mit Beschwerden konfrontiert wurde.“

Die Handlungsmöglichkeiten des Betriebsrats sind allerdings begrenzt. Er hat es zudem mit einer sehr heterogenen Belegschaft zu tun, und er hat keine im Betrieb gut verankerte Gewerkschaft als Verstärkung im Rücken. Ein Beispiel für einen Fall, der formal korrekt ablief – und für viel Unmut in der Belegschaft sorgte:

Anfang Juni 2014 wurde der adidas-Betriebsrat – ordnungsgemäß – in Sachen Samstagsarbeit eingeschaltet. Er sollte zusätzlichen Schichten zwischen Juni und Ende August zustimmen. Und zwar ab sofort. Der Betriebsrat stimmt zu – allerdings auf der Basis, dass sich Mitarbeiter freiwillig dafür melden.

Am Tag nach dieser Betriebsratsentscheidung, am Dienstag, 3. Juni, kommt mittags eine mail eines adidas-Verantwortlichen an andere adidas-Verantwortliche wie Supervisor: „Nur um sicher zu gehen, dass mich alle verstehen. Ab dieser Woche werden wir in allen Schichten 6 Tage arbeiten“. Ein unmissverständlicher Ton.

 

„Familie hat gar keinen Stellenwert“.

Die Mitarbeiter wurden von den samstäglichen Zusatzschichten völlig überrumpelt. Quasi von einem Tag auf den anderen werden ihre Wochenendpläne und ihre Pläne für Unternehmungen mit der Familie für einen Zeitraum von 12 Wochen – vom Tag vor Pfingsten den ganzen Sommer über – völlig über den Haufen geworfen.

In der Hochsaison 2014 im adidas-Lager: Kartons über Kartons. Foto vom 15.06.2014.

In der Hochsaison 2014 im adidas-Lager: Kartons über Kartons. Foto vom 15.06.2014.

Martin: „In unserer Nachtschicht wurden wir am 3.6.2014 darüber informiert, dass ab sofort bis Ende August in allen Schichten auch jeweils am Samstag gearbeitet werden soll. Unser Supervisor forderte uns auf, uns umgehend in eine Liste für die kommende Schicht von Freitag auf Samstag einzutragen. Das haben auch einige von uns getan.

Nachdem unser Supervisor dann sagte, es würde am nächsten Tag eine Liste ausgehängt werden, auf der alle Samstage bis Ende August stehen, und dass wir uns auch in diese Liste eintragen müssten, kam es zu einer heftigen Diskussion. Nachdem wir sagten, dass die meisten bei Verfügbarkeit ein nein eintragen würden, hieß es, dass es dann zur Pflicht werden würde bzw. dass Mitarbeitern, die sich weigern, bis Ende August an Samstagen zu arbeiten, gekündigt würde.“

„Wir hatten außerdem“, fügt Martin hinzu, „keinerlei Informationen darüber, wie wir als Leiharbeiter überhaupt für diese Mehrarbeit entlohnt werden würden.“ Bei einem Leiharbeiter, wie Martin einer war, ist von einem normalen monatlichen Gehalt (40-Stunden-Woche) von brutto etwa 1.200 Euro auszugehen.

 

Martin hat eine Familie zu ernähren und möchte auch für seine Kinder da sein. Er ist zudem seit vielen Jahren ehrenamtlich aktiv. Die Arbeit, für die er bei adidas zuständig war, hat er geliebt. Das System adidas hat ihn geschafft. „Man verkauft“, sagt er, „seine Seele.“

 

Der Betriebsrat hatte der zusätzlichen Samstagsarbeit zugestimmt – auf freiwilliger Basis. Aber genau das ist im adidas-System das Problem: Bei der vielsprachigen, heterogenen Belegschaft mit ihrer Vielzahl individuell unterschiedlicher Arbeitsverträge und ihren unterschiedlichen Arbeitgebern/Leiharbeitsfirmen, gibt es keine Freiwilligkeit, die diesen Bezeichnung verdient. Kommt ein „wer nicht kommt, der geht“, regiert die Angst. Und wenn es nicht die Angst vor dem Gefeuertwerden ist, die den Ausschlag gibt, dann die Angst davor, sich den Weg zum Aufstieg zu versperren – den Aufstieg zum adidas-Mitarbeiter, zu einem Mitarbeiter mit einem Vertrag von adidas.

 

Das große Ziel: adidas-Mitarbeiter werden und 700 Euro mehr verdienen.

585 der 864 Menschen (Stand 21.5.2015) arbeiten zwar bei adidas, aber sie sind keine adidas-Mitarbeiter. Sie sind Mitarbeiter von Leiharbeitsfirmen wie Olympia und Manpower. Für einen Vollzeit beschäftigten Leiharbeiter, wie es Martin einer war, kann der Aufstieg in die „Elite“ der adidas-Mitarbeiter ein Einkommensplus von brutto 700 Euro im Monat bedeuten. Das ist viel, sehr viel Geld.

„Seit 5 Monaten“, notierte Martin im Juni 2014, „werden ich und noch einige weitere Kollegen mit einer Übernahme zu adidas hingehalten.“ Viele hoffen und hoffen auf diesen Aufstieg, passen sich an, schlucken Enttäuschungen, entwickeln Frust und Neid, gar Aggressionen, wenn andere, scheinbar ohne ersichtlichen Grund, an ihnen vorbeiziehen, machen sich lieb Kind usw.

 

Zurück zu den Versprechungen des Anfangsjahres!

Bei adidas hat sich die Waagschale, was die Arbeitsverhältnisse angeht, massiv in Richtung Leiharbeit gesenkt. Derzeit laufen die Vorbereitungen für die aktuelle Hochsaison. Was wird sie bringen? Zusatzschichten, Bereitschaftsdienste, noch mehr Leiharbeiter, die keine andere Wahl haben, als sich mit Haut und Haaren den Ansprüchen des Unternehmens auszuliefern? Noch mehr Kommen und Gehen in der Region?

Von einer Verwurzelung in der Region kann jedenfalls bei nur 281 adidas-Arbeitsplätzen zu 583 Leiharbeitern aus diversen Ländern keine Rede sein. Zumal auch nicht jeder Vertrag mit adidas einer Einlandung zur Verwurzelung gleichkommt. Auch ein solcher Vertrag kann ein nur auf ein Jahr begrenzter Zeitvertrag sein.

„In der Region Wurzeln schlagen“, sagte der erste Standortleiter adidas im Jahr 2013, viele Mitarbeiter sollten aus dem Umland kommen, Zeitarbeitskräfte nur „in absoluten Spitzenzeiten“ beschäftigt werden: Es wäre viel gewonnen – für die Mitarbeiter bei adidas, für die Region, für das Image von adidas – würde das Unternehmen einen Kurswechsel einleiten in Richtung der ursprünglich formulierten Absichten und Ziele.

Ausländische Arbeitnehmer aus Polen und anderen Ländern wären in die Region sicher ebenfalls willkommen, wenn es denn Arbeitnehmer wären, die durch adidas eine Perspektive hätten zu bleiben. Wer keine Zukunftsperspektive hat, wird sich kaum mit seiner Familie hier niederlassen oder hier eine Familie gründen.

 

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Ein Kommentar

  1. Phil Harmonie

    26. Scheinheilig
    „Die adidas Group verfolgt höchste Standards, was ethisches Verhalten und Compliance angeht. Wir erwarten dieses Verhalten auch von unseren Partnern.“ Diese aktuelle adidas-Aussage als FIFA-Sponsor, werden die Leiharbeiter im Logistikzentrum Rieste mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen.
    Aber auch hier wird der Normalbürger wieder – nach einer kurzen Zeit der Entrüstung- zur Tagesordnung übergehen, solange er nicht selbst betroffen ist.

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